Montag, Januar 30

Die Sache mit den Checkpoints

Ramallah, 29. Januar 2006


Nachdem ich die letzten Wochen unschlüssig war, an welchen Tagen ich mein Wochenende machen soll, habe ich mich nun entschlossen - trotz meiner agnostischen Grundüberzeugung – ganz christlich Samstag und Sonntag frei zu machen.

Die beiden Palästinenserinnen, die bei uns im Büro arbeiten machen Freitag und Samstag Wochenende. Zumindest Hadeel, denn Sonia kommt meistens auch am Freitag, aber nur halbtags. Christian, Ute und Jochen, die deutschstämmige Belegschaft also, macht teilweise Freitag und Samstag, manchmal aber auch Samstag und Sonntag Wochenende, je nach Lust und Laune und Arbeitspensum. Aber Freitags ist hier absolute tote Hose, nur wenige Geschäfte haben geöffnet und alles läuft auf halber Geschwindigkeit. Also halte ich es für sinnvoller, Freitags zu arbeiten und dafür das europäische Wochenende voll nutzen zu können. Und sich zwischendurch mal einen Tag frei zu nehmen und dafür am „Wochenende“ einen Tag zu arbeiten ist auch kein Problem.

Samstag Abend war ich mit Qussei, einem Medizinstudenten, den ich letzte Woche kennen gelernt habe, in einer urgemütlichen Kneipe in der Altstadt Bier trinken. Er ist extrem angepisst von dem Wahlausgang und überlegt ernsthaft, Palästina zu verlassen. „Wart mal ab!“ habe ich ihm gesagt, „mal gucken, was die neue Regierung überhaupt ändern kann und will und ob sie nicht vielleicht in ein paar Monaten scheitert und es Neuwahlen gibt…“


Ich glaube nämlich nicht, dass die Hamas jetzt so mir nichts dir nichts hier einen islamischen Gottesstaat aufmachen kann. Dazu sind die Palästinenser zu säkular und zu modern. Außerdem sind ja nur ein Bruchteil der Leute, die die Hamas gewählt haben waschechte Islamisten. Die Allermeisten sind Protestwaehler, haben sie nur gewählt, weil sie mit der korrupten Fatah-Regierung unzufrieden waren und weil die Hamas vor Allem den Armen eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation versprochen hat. Und Arme, und damit potentielle Wähler, gibt es reichlich:

60% der Palästinenser leben unterhalb der Armutsgrenze von 2 $ pro Kopf und Tag.


Qussei kommt aus Tulkarem, einer Stadt im Nordwesten der Westbank. Da er aber in Ramallah studiert, arbeitet und wohnt, hat er eine Ramallah-ID. Wenn er seine Familie besuchen will, muss er fünf israelische Checkpoints passieren. Wenn viel los ist oder die Soldaten schlecht gelaunt sind braucht er für die Strecke von 40 km manchmal einen ganzen Tag.


Nach Jerusalem kann er mit seiner ID nicht, er kriegt keine Genehmigung. Das heisst, dass er noch nie in seinem Leben in dieser Stadt war, die nur 15 km von Ramallah entfernt liegt und für die Palästinenser nicht nur die Hauptstadt ihres irgendwann-mal-zu-gründenden Staates, sondern auch ein mysthischer Ort (nach Mekka und Medina immerhin die dritt-heiligste Staette des Islam) ist.


Da offenbart sich am individuellen Beispiel ganz anschaulich, was militärische Besatzung im Alltag ueberhaupt bedeutet:

Eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Besatzungssoldaten, die einem im eigenen Land die Weiterfahrt verwehren können, wenn ihnen danach ist, sie brauchen ja nicht mal eine Begründung abgeben.

Eine beliebte Methode ist es auch, einfach die Autoschlüssel zu konfiszieren, die Insassen zu Fuß weiter zu schicken und das Auto entweder stehen zu lassen oder zu zerstören. Die Initiative „Breaking the Silence“, die von israelischen Soldaten, die in den besetzten Gebieten im Einsatz waren, ins Leben gerufen wurde, dokumentiert in einer Wanderausstellung den Alltag und die Erlebnisse von Soldaten in den besetzten Gebieten.

Unter anderem eben auch eine Wand mit unzähligen Schlüsselbunden…


Einen guten Artikel ueber die Initiative bietet die Sueddeutsche hier.

Gerichtlich gegen unrechtmäßige Behandlung oder Beschädigung ihres Eigentums vorgehen können Palästinenser nicht, da sie keine israelischen Staatsbürger sind und damit auch nicht das Recht haben, vor israelischen Gerichten zu klagen.

Und die Checkpoints sind überall im Westjordanland. Zwar gibt es die so genannten A-Gebiete, also Gebiete, in denen die Autonomiebehörde die volle Hoheit hat. Diese Gebiete umfassen die großen Städte Hebron, Bethlehem, Jericho, Ramallah, Nablus, Jenin, Salfit, Tubas und Tulkarem. Dies liegen wie Inseln umgeben von B- und C-Gebieten, in denen die Israelis volle Sicherheitshoheit haben.

Was zur Folge hat, dass sie jede Bewegung von einer Insel zur nächsten kontrollieren können. Sogar die palästinensische Polizei, Abgeordnete oder der Präsident selbst müssen an den Checkpoints anstehen, warten, sich kontrollieren lassen. Und wenn es gerade Essen gibt, sind die Checkpoints auch gerne mal für eine halbe Stunde komplett geschlossen. Zwischen der Westbank und dem Gazastreifen gibt es keine einzige Verbindung, ein Besuch bei Verwandten dort ist seit 1994, als die Transitstrecke geschlossen wurde, unmoeglich.

Ein Mitarbeiter des israelischen Verteidigungsministeriums hat heute angekuendigt, Israel werde den frisch gewaehlten Hamas-Parlamentariern aus dem Gazastreifen keine Genehmigung erteilen, in die Westbank und damit zum Parlamentssitz in Ramallah zu fahren. Soviel zum Thema Bewegungsfreiheit.


Zusätzlich zu den regulären, also den stationären Checkpoints gibt es noch die „flying Checkpoints“. Was das bedeutet, konnte ich neulich Abend erleben, als ich meinen Chef nach Jerusalem gefahren habe. Ein paar Kilometer nach dem stationären Checkpoint, der direkt am Ende einer Ausfallstraße aus Ramallah liegt (die Stadt ist eben auch eine „A-Gebiets-Insel“, die von Checkpoints umzingelt ist), auf halber Strecke nach Jerusalem war einer.

Ein „flying Checkpoint“ besteht einfach aus zwei Militärjeeps, die sich auf die Straße postieren, ein oder zwei orange Blinklichter aufstellen und dort für eine kurze Zeit bleiben und Nachkontrollen anstellen. Die Autos müssen sich in zwei Spuren aufstellen: grüne, also palästinensische auf die rechte Spur, die werden gefilzt und gelbe, also israelische Nummernschilder auf die linke Spur, die können langsam durchfahren.

Zum Glück ist unser Auto in Jerusalem gemeldet, hat also gelbe Nummerschilder. Dennoch ein komisches Gefühl, bevorzugt behandelt zu werden, nur wegen der Farbe des Nummernschildes…



Wer sich tiefergehend dafuer interessiert, wie das mit der Zerstueckelung der palaestinensischen Gebiete im Detail aussieht, wie die Mauer genau verlaeuft und wo ueberall stationaere Checkpoints sind, dem sei das Uebersichtsposter von ARIJ, einem unabhaengigem Institut aus Jerusalem, empfohlen.

Die Datei ist zwar 5,5 MB gross, es lohnt sich aber, auch fuer Modemnutzer...

Freitag, Januar 27

Nach dem Erdbeben - vor dem Nachbeben

Ramallah, 27. Januar 2006


Heute ist der Tag der Analysten. Experten aus aller Welt und solche, die sich dafuer halten, spekulieren ueber die Zukunft des Nahostkonfliktes und die Auswirkungen auf den Friedensprozess. Da moechte ich mich doch gerne einreihen und auch was dazu beitragen...



Der Wahlsieg der Hamas soll dem Friedensprozess schaden?

Welchen Friedensprozess meinen die eigentlich? Seit Jahren gab es keine Verhandlungen mehr, erst weil Arafat als Verhandlungspartner abgelehnt wurde und dann, weil Mahmoud Abbas vorgeworfen wurde, er wuerde nichts oder zu wenig zur Entwaffnung der Milizen unternehmen.
Von ihm und seiner spaerlich ausgestatteten Polizei wurde also das verlangt, was das israelische Militaer in 5 Jahren der Wiederbesetzung und der gezielte Toetungen nicht erreicht hat.
Erst Polizeistationen bombardieren und sich dann beklagen, die palaestinensische Polizei sei nicht willens und nicht faehig zu handeln...
Von einem Friedensprozess kann also schon lange nicht mehr die Rede sein.



Und jetzt?

Jetzt sieht es ganz danach aus, als gaebe es ueberhaupt keinen Ansprechpartner mehr. Anstatt des gemaessigten, verhandlungs- und kompromissbereiten Abbas wird in Zukunft ein Hamas-Politiker auf dem Praesidentenstuhl sitzen. Und ganz gleich, ob dieser eine radikale oder eine nicht ganz so radikale Position gegenueber Israel vertritt: es wird schwierig werden in absehbarer Zeit den im Koma liegenden Friedensprozess wiederzubeleben. Bestenfalls schafft es die Hamas, sich als glaubhafte und verlaessliche Kraft zu etablieren: schlimmstenfalls werden in Israel ebenfalls Hardliner an die Regierung kommen und jegliche Verhandlungen ablehnen und statt dessen eine harte Linie fahren. Dann ist davon auszugehen, dass die Gewaltspirale wieder zu rotieren beginnt...



Finanzhilfe einstellen?

Klar, koennte die EU machen. Gesetzt dem Fall, dass sie ein Interesse an der weiteren Verarmung und damit auch der Radikalisierung der palaestinensischen Bevoelkerung hat. Ohne die EU-Gelder koennte die Autonomiebehoerde nicht mal mehr ihre Beamten bezahlen, was dem allgemeinen Unmut, der Korruption foerderlich und der Sicherheitslage hinderlich waere.



Die Hamas soll dem Terror abschwoeren?

Klar sollte sie dass. Die Frage ist nur: Was ist Terror? Terror ist immer eine Frage des Betrachters. Fuer die Israelis sind Angriffe auf Soldaten auch Terrorakte. Nach internationalem Recht sind Angriffe auf eine Besatzungsarmee legitimes Recht. Und trotz aller barbarischen Anschlaege, die der bewaffnete Arm der Hamas in den letzten Jahren auch auf Zivilisten veruebt hat, sollte man nicht vergessen, dass die Hamas - im Gegensatz zu den Fatah-nahen Al-Aksa-Brigaden und dem Islamischem Jihad - sich seit anderthalb Jahren an den von ihr einseitig ausgerufenen Waffenstillstand haelt.
Also seit genau dem Zeitpunkt, an dem sich die Fuehrung der Hamas entschlossen hat, auch auf der parlamentarischen Ebene die Politik mitzubestimmen. Das allgemeine Chaos im Gazastreifen, die Entfuehrung von Auslaendern und der juengste Selbstmordanschlag letzte Woche in Tel Aviv gehen auf Kosten der beiden anderen oben genannten Gruppierungen.
Also ist eine vielerorts befuerchtete zweigleisige Strategie der Hamas - regieren UND bomben -
sehr unwahrscheinlich. Die Hamas ist auf dem Weg von einer Widerstandsgruppe zu einer politischen Partei. Dieser Transformationsprozess hat schon vor laengerer Zeit begonnen und ist bei Weitem noch nicht am Ende, aber:
Er wurde eingeschlagen und trotz aller Wahlkampfrethorik der letzten Tage und Wochen werden die Hamas-Leute jetzt Realpolitik betreiben MUESSEN.

Es wird alles nicht so heiss gegessen wie es gekocht wird. Auch in Palaestina nicht.

Wie es um die demokratische Grundeinstellung der Anhaenger der Hamas steht, konnte man gestern am fruehen Abend sehen, als sie das Parlament belagerten und die palaestinensische Flagge durch die der Hamas ersetzten. Allerdings waren die Ausschreitungen und auch das Ausmass der Zerstoerung laengst nicht so gross, wie anfaenglich berichtet wurde.

Es gab eine Strassenschlacht zwischen Hamas- und Fatah-Anhaengern, es gingen einige Scheiben zu Bruch und es gab zwei Verletzte. Und die Sicherheitskraefte ballerten dazu in die Luft um sich - im wahrsten Sinne des Wortes - Gehoer zu verschaffen und die beiden Gruppen auseinader zu treiben.

Ute, eine Kollegin, die seit nunmehr 8 Jahren hier ist, meinte heute morgen nur:
"Ach, das war doch kein grosses Ding. Das ist normal, hier passiert eben nichts ohne ein bisschen Krawall. Die sind einfach etwas emotionaler..."

Donnerstag, Januar 26

Der Tag danach

Ramallah, 26. Januar 2006

Heute morgen nach einem "de-briefing" im deutschen Vertretungsbuero aenderte sich die Nachrichtenlage alle halbe Stunde. Erst hiess es, die Fatah habe einen kleinen Vorsprung, dann, die Hamas habe die Mehrheit und schliesslich, es gaebe einen Gleichstand.
Die Parteien bekraeftigten erst unisono ihre Mehrheit und damit ihren Regierungsanspruch, dann gab es erste Andeutungen einer grossen Koalition, wobei nach wie vor unklar war, wer die groesste Fraktion stellt.

Zwischenzeitlich meldete die israelische Tageszeitung Ha'aretz, die Hamas habe die absolute Mehrheit, also ueber 50% erreicht. Laut unbestaetigten Quellen und inoffiziellen Ergebnissen wie sie selbst einraeumten, gewann die Hamas alle Sitze in den Distrikten Hebron, Gaza Nord, Gaza Stadt und 4 der 5 Sitze im Bezirk Ramallah (ein Sitz ist fuer Christen reserviert). Die Distrikte Nablus, Jenin, Qalqiliyah, Tulkarem und Salfit sollen der Meldung zufolge eine Hamas- Mehrheit haben.

Gegen Mittag kuendigte dann der Premierminister Ahmed Kurei dann seinen Ruecktritt an.
Nicht unerwartet, aber doch ueberraschend frueh, wenn ma bedenkt, dass es noch immer kein vorlaefiges Endergebniss gibt, sondern alle Spekulationen auf Umfragen und Hochrechnungen beruhen.

Man munkelte aber bereits, die Hamas koennte bis zu 60% erreicht haben. Ein respektables Ergebniss fuer eine Partei, die zum ersten Mal bei Parlamentswahlen antritt.
Heute abend um 19 Uhr wird auf der Pressekonferenz der Wahlkommission ein erstes offizielles Zwischenergebniss verkuendet. Dann wird man sehen wie hoch die Hamas gewonnen hat.

Am Nachmittag wollte ich eigentlich nur schnell etwas essen gehen, geriet aber mitten in die zentrale "Siegesfeier" der Hamas-Anhaenger. Obwohl es nach wie vor keine genauen Angaben ueber Prozente und Sitzverteilungen gibt, wurde prophylaktisch schon mal kraeftig und vor Allem lautstark gefeiert. Nach Geschlechtern getrennt, versteht sich. Die Maenner auf der einen, Frauen und Kinder auf der anderen Seite des Platzes. Da ich die Kamera dabei hatte, kletterte ich auf einen Laster und hatte vom Dach aus eine praechtige Aussicht auf die Szenerie: Ein gruenes Flaggenmeer, begeisterte Massen und immer wieder Allahu akbar! - Sprechchoere.

Hier zuerst einmal - Ladies first! - ein paar Impressionen aus dem Frauenblock:






Wenn ich mir diese Frauen so angucke, dann wird mir schon etwas seltsam zumute. Es tragen naemlich bei Weitem nicht alle Frauen Kopftuecher. Und das, was man jetzt hier sieht, ist also die Anhaengerschaft der Hamas. Und wenn die als alleinige und durch ihren haushohen Sieg selbstbewusste und euphorische Partei die Regierung stellt, dann wird sich einiges aendern.

Dann ist Schluss mit diesem freizuegigem, weltlichen, lasterhaftem Lotterleben! Also schnell noch ein paar Biervorraete anlegen, denn ab naechster Woche haben wir hier einen islamischen Gottesstaat nach iranischem Vorbild...

Im Maennerblock ging es deutlich lebhafter und rauher zu, die Stimmung war aber auch hier ausgelassen und ueberschwaenglich euphorisch:




Zurueck im Buero. Erst einmal schauen, ob, und wenn ja, was es Neues gibt. Die Nachrichtenlage ist durchweg negativ. Von "worst case Szenario" ist die Rede, das Ergebnis sei "schlimmer als wir befuerchtet hatten" und werde "die gesamte Region ins Chaos stuerzen".
Und der Spiegel bringt es auf den Punkt, was die internationale Gemeinschaft befuerchtet:
"Die Angst vor Hamastan geht um". Alles in allem: "Ein schwarzer Tag fuer den Nahen Osten".

Klar, das alle Prognosen uebertreffende Abschneiden der Hamas (obwohl noch gar nichts feststeht) hat viele ueberrascht, am Meisten wahrscheinlich die Hamas selbst. Sie hatten auf eine Regierungsbeteiligung gehofft und jetzt muessen sie ploetzlich alleine den gesamte Laden schmeissen. Als Oppositionspartei zur Fatah war es einfach, Missstaende zu kritisieren und sich als Hardliner zu praesentieren, doch jetzt sieht es ganz danach aus, als haette die Hamas ihren Marsch durch die Institutuionen (der eher ein 100 Meter Sprint durch die Institutionen war) geschafft und ist nun eine Staatstragende Partei. Ob sie das schafft, bleibt abzuwarten, allerdings kann ich mir schlecht einen Hamas-Premier zu Besuch im Weissen Haus vorstellen.

Der Westen, also Europa, die USA und natuerlich auch Israel sehen die Hamas jedoch immer ausschliesslich als terroristische Vereinigung und das ist etwas zu kurz gegriffen.

Die Hamas ist eine breite politische Bewegung; sie betreibt Kindergaerten und Schulen, bietet kostenlose Arztpraxen an und verteilt Lebensmittel an beduerftige Familien. Damit erkaufen sich die Islamisten den Rueckhalt in der Bevoelkerung. Und dann gibt es eben noch den bewaffneten Arm der Hamas, die Qassam-Brigaden. Die sind in der Tat eine bewaffnete Gruppe, verueben Selbstmordattentate, greifen Armee-Stuetzpunkte an und beschiessen Israel regelmaessig mit ihren selbstgebauten Qassam-Raketen.

Aber ich meinee, man sollte sie einfach mal machen lassen. Wie sich in einer demokratischen Wahl gezeigt hat, war der Wunsch nach einem politischen Wechsel da und jetzt sollen sie mal zeigen, ob sie es besser koennen als die korrupte Fatah-Fuehrung. Wirkliche politische inhalte haben sie anscheinend nicht, im Wahlkampf hiess es zu jedem Thema:

DER ISLAM IST DIE LOESUNG!

Als Regierungspartei koennte die Hamas ihre bisherige kaempferische Rhetorik zugunsten einer kompromissbereiteren, diplomatischeren Politik eintauschen. Und dass sie mit Israel verhandeln muessen, ist sogar den radikalsten Kraeften innerhalb der Hamas klar, denke ich. Denn wenn sie von ihren Ministerien aus zum bewaffnetem Kampf und zur Zerstoerung Israels aufrufen, dann haben sie schneller eine Rakete im Buerofenster haengen als sie "bismillah al rahman al-rahim" in ihren Rauschebart murmeln koennen.

Allerdings besteht natuerlich auch die Gefahr, das israel jegliche Verhandlungen mit einer Hams gefuehrten regierung ablehnt und der Wahlsieg zu einem Drift hin zu radikalen Kraeften bei den israelischen Parlamentswahlen Ende Maerz fuehrt. Und wie es dann um die Aussichten auf ein en "Friedensprozess", den man ohnehin schon seit Jahren nicht mehr als einen solchen bezeichnen kann, steht, bleibt abzuwarten. Es koennte aber - und auch dass hoert man schon seit laengerem - zu einer dritten Intifada kommen. Mit Hardlinern auf beiden Seiten wuerde es dann richtig duester aussehen...

Die ganze Zeit, waehrend ich hier tippe, waren draussen Schuesse zu hoeren. Zwischendurch Sirenen und Maschinengewehrsalven. Ich konnte aber nicht genau einordnen, von wo.
Im internet dann die Meldungen, Hamas-Aktivisten haetten das Parlament gestuermt, ihre Flagge auf dem Gebaeude gehisst und es sein zu Ausschreitungen zwischen Hamas- und Fatah-Unterstuetzern gekommen.

Und tatsaechlich, die Schuesse kommen aus Richtung des Parlaments, man hoert wildes Gehupe und aufgebrachtes Geschrei. Aber auch im Stadtzentrum fallen Schuesse.

Ich stehe auf dem Balkon, wo es, im 5. Stock und in einer abseitsgelegenen Seitenstrasse gelegen, sicher ist und denke mir: Ach du Scheisse!

Jetzt drehe sie also voellig durch! Mal gucken, ob ich nach Hause fahre oder hier bleibe, mein Heimweg naehmlich an der Muqata'a, dem Amtssitz des Praesidenten vorbei. Im Notfall schlafe ich im Buero...

Wahltag

Rammalah, 26. Januar 2006

Gestern war er also, der grosse Tag. Al-Quds, eine der groessten Tageszeitungen in den palaestinensischen Gebieten, brachte es in einer grossen roten Headline auf den Punkt:
al-jaum, jaum dimukratiya filastinya - heute ist der Tag der palaestinensischen Demokratie.

Das erste Mal seit den Wahlen 1996 hatten knapp 2 Millionen Wahlberechtigte in der Westbank, im Gazastreifen und im von Israel annektierten Ost-Jerusalem die Moeglichkeit, ueber die Zusammensetzung ihres Parlamentes zu entscheiden. Trotz der bereits im letzten Beitrag beschriebenen Schwierigkeiten und Streitpunkte, was die Wahl der in Jerusalem lebenden Palaestinenser anbelangt - die Stimmabgabe dort fand per "Briefwahl" in Postaemtern statt - verlief die Wahl auch in Jerusalem ohne nennenswerte Behinderungen (abgesehen davon, dass Israel nur 6.300 der 120.000 in Jerusalem lebenden Palaestinensern gestattete zu waehlen).

Der einzige Vorfall ereignete sich am fruehen Morgen in der Naehe des Jaffa-Tores, als ein Knessetabgeordneter des rechten Spektrums mit einigen Anhaenger in ein Postamt stuermte und den dort wartenden Waehlern drohte, sie verloeren durch die Teilnahme an den Wahlen ihre Jerusalem-ID, welche ihnen einen besonderen Status zusichert.

Da rund zwei Drittel der Bevoelkerung unter 25 Jahren jung ist, war es fuer die meisten die erste Parlamentswahl . Daher gab es im Vorfeld breit angelegte Informationskampagnen, aber auch direkt in den Wahlbueros wurde auf grossen, auch fuer Analphabeten verstaendlichen bebilderten Plakaten darueber aufgeklaert, wie so eine Wahl funktioniert.


Man beachte: Waffen und Zigaretten verboten!

Eigentlich ist in den Wahlbueros alles verboten, was den Palaestinensern lieb und teuer ist.
Zigaretten, Mobil-Telefone, Waffen, politische Diskussionen, das Benutzen von Megaphonen und Lautsprecheranlagen.
Fehlt nur noch, dass sie Plastiktueten und Neonroehren verbieten...

Ich selbst war mit meinem Kollegen Jochen mit dem Auto in den Doerfern rings um Ramallah, Al-Bireh und Birzeit unterwegs. In keinem der 10 von uns besuchten Wahlbueros konnten wir Verstoesse gegen die Grundregeln einer freien, geheimen und fairen Wahl feststellen. Die Tatsache, dass trotz des offiziellen Verbotes in den Wahlbueros geraucht wurde, oder dass einige Waehler ihre Wahlzettel nicht zusammen gefalten, sondern offen fuer alle Anwesenden sichtbar zur Urne brachten, stellen ja nun wirklich keine Grundlegenden Verstoesse dar, zumindest beeinflussen sie die Entscheidung des einzelnen Waehlers nicht.

Auch die Wahlwerbung in unmittelbarer Naehe der Wahlstationen wurde nicht, wie eigentlich vorgeschrieben entfernt, aber das kaeme bei der Menge und Dichte, der seit Wochen das Strassenbild dominierenden Plakate einer Sisyphosarbeit gleich...

Vor jedem der Wahlbueros standen Vertreter der zwei grossen Parteien - zum einen die Anhaender der regierenden Fatah mit gelben Flaggen und mit schwarz-weissen Schals und zum anderen die Anhaenger der Hamas, die zum ersten Mal an einer Wahl teilnimmt, nachdem sie diese bisher immer boykottierte, komplett in gruen. Hin und wieder sah man auch Anhaenger der marxistisch orientierten Volksfront zur Befreiung Palaestinas (PFLP) mit roten Flaggen und rot-weissen Schals.
Alles in allem ein durchweg friedliches Miteinander, Volksfeststimmung und nicht zuletzt ein schulfreier Tag fuer die Kinder, da in ihren Schulen die Wahlbueros eingerichtet waren. Mit einer fuer uns verwunderlicher Selbstverstaendlichkeit wurden selbst Kleinkinder von ihren Eltern mit den Merchandise-Produkten der von ihnen praeferierten Partei ausgestatten.

Hier ein Bild von den beruehmt-beruechtigten und gefuerchteten, weil bis zu den Milchzaehnen bewaffneten Qassam-Junior-Brigaden:

Der Ablauf selbst verlief fuer palaestinensische Verhaeltnisse erstaunlich diszipliniert. Nachdem sich die registrierten Waehler identifiziert hatten, ging mussten sie den Zeigefinger der linken Hand in spezielle Tinte halten um so ein Mehrfachwaehlen auszuschliessen.
Mit den beiden Wahlzetteln - das System ist dem deutschen sehr aehnlich: es gibt eine Erststimme fuer die Direktkandidaten des Wahlkreises und eine Zweitstimme fuer die Landesweit antretenden Parteien und Listen.


Die Auszaehlung, die ich in einer Grundschule in Al-Bireh beobachtet habe, verlief auch gesittet und vorschriftsgemaess. Jeder der angetretenden Parteien hatte einen Beobachter vor Ort, was zur Folge hatte, dass sich alle gegenseitig kontrollierten und darauf aufpassten, dass beim Auszaehlen keine Stimme - im wahrsten Sinne des Wortes - unter den Tisch fiel.
Alle Stimmzettel wurden gezeigt und vorgelesen, jeder fuehrte seine eigene Strichliste und an der Tafel wurde von der Wahlkommision mitgezaehlt.


Die lange Reihe in der Mitte der Tafel ist die fuer die Hamas. Wie man unschwer erkennen kann ist sie mit Abstand die staerkste Fraktion.

In "meinem" Wahlbuero kam die Hamas auf 50%, Fatah auf 29% und die Maertyrer Abu Ali Mustafa - Liste auf 9%. Die restlichen Prozent gingen an Kleinstparteien.
Noch waehrend der Auszaehlung hoerte man draussen die Hupkonzerte und Sprechchoere der verschiedenen Gruppierungen, die alle (vorsichtshalber oder um Praesenz zu zeigen) feierten. Vereinzelt wurde auch in die Luft geschossen, aber daran habe ich mich mittlerweile schon vollstaendig gewohnt. Es ist einfach die Steigerung von Hupen...


Alles in allem zeigt sowohl der friedliche Ablauf, als auch die hohe Wahlbeteiligung, dass in Palaestina trotz der widrigen Umstaende einer militaerischen Besatzung und der Nicht-Existenz eines eigenen Staates, demokratische Strukturen und der Wille zur demokratischen Partizipation seitens der Bevoelkerung vorhanden sind.

Im Gegensatz zu anderen arabischen Staaten hatten die Waehler die Wahl zwischen 11 verschiedenen Parteien (es gibt selbsternannte Demokratieexporteure mit deutlich weniger Parteien), aus allen Bereichen des politischen Spektrums.
Und allein die Tatsache, dass die Wahlen stattfanden, obwohl die regiernde Fatah-Bewegung mit erheblichen Verlusten rechnen musste, beweisst die demokratische Grundstruktur, auch wenn weite Teile der Regierung und Verwaltung nach wie vor von Korruption, Vetternwirtschaft und Intranzparenz gepraegt sind.

Montag, Januar 23

Wahlkampf, Entwaffnung und Friedensplan


Ramallah, 22. Januar 2006


Die gute Nachricht: In Ramallah ist seit 3 Tagen strahlend blauer Himmel bei geradezu fruehlingshaften Temperaturen
(siehe Foto), was mich umso mehr freut, wenn ich in den Nachrichten lese, dass Deutschland gerade von einer Rekordkaeltewelle ueberrannt wird...




Die schlechte Nachricht: Der Wahlkampf geht in die heisse Phase. Der Wahltag rueckt immer naeher und die konkurrierenden Parteien fahren jetzt die ganz grossen Geschuetze auf: Buehnen, Kundgebungen, Aufmaersche der Anhaengerschaft. Aber das beliebteste Wahlkampfmedium ist und bleibt der LKW, der - mit Flaggen und Postern der jeweiligen Partei geschmueckt, mit einem total uebersteuertem, weil aufs Maximum aufgedrehtem Sound-System und mit teilweise vermummten, aber ohne Ausnahme jubelnden Aktivisten beladen – langsam durch die Strassen der Innenstadt zuckelt. (siehe Foto)

Gerne auch mal 5 mal um den Kreisverkehr. Viel hilft viel!

Und das Allerbeste: Da es anscheinend Auflagen gibt, nicht, wie sonst ueblich- wie wild in die Luft zu ballern, gab es bei dem Hamasaufmarsch im Zentrum von Ramallah heute eine Neuerung der ganz besonderen Art:

Maschinengewehrfeuer vom Tonband !!!

Weil echt schiessen mitten in der Stadt nicht drin ist, sie aber offensichtlich nicht auf ihre martialische "Mann-o-mann-watt-sind-wir-gefaehrlich-Show" verzichten wollen, laeuft eben eine Einspielung zu der Musik und den Reden ueber den Lautsprecherwagen.

Irgendwie haben die Araber insgesamt und die Palaestinenser insbesondere eine Vorliebe fuer
stark gezuckerten tee, fuer Plastikstuehle, fuer Neonroehren - und eben fuer voll aufgedrehte, total uebersteuerte, moeglichst die ganze Stadt beschallende Lautsprecheranlagen...

Bei der Arbeit habe ich die letzten Tage eine Art Presserundschau gemacht, um zu gucken, wie die internationale Presse die Wahlen, die Vorbereitungen auf selbige und ihr wahrscheinliches Ergebnis sowie dessen Konsequenzen einschaetzen.

Einig sind sich alle nur darin, dass die Hamas in irgendeiner Form, sei es als Koalitionspartner der Fatah oder als duldende Opposition im Parlament, in die politische Tagesordnung mit eingebunden werden wird.

Marwan Barghuti, der Spitzenkandidat der Fatah (siehe Foto), der gerade eine mehrfach-lebenslaengliche Haft in einem israelischem Knast absitzt (was nichts ungewohnliches ist; insgesamt sind 10 Kandidaten in Haft) hat angekuendigt, die Hamas zu beteiligen, wenn sie denn der Gewalt gegen Israel und dem Terror abschwoert.



Das gleiche sagt Frank-Walter Steinmeier, das gleiche sagt die israelische Regierung, naehmlich dass sie bereit waere mit der Hamas zu verhandeln, wenn sie besagte Vorraussetzungen erfuellt, also dem Terror abschwoert, ihre Waffen abgibt, Israels Existenzrecht annerkennt und so weiter. Existenzrecht ist wirklich wichtig, aber ich glaube, diese unumkehrbare Realitaet hat mittlerweile auch der letzte verbohrte Hardliner akzeptiert. Was die Waffenfrage anbelangt, so ist die Forderung nach der Entwaffnung ein indirekter Aufruf zum Buergerkrieg.


Und die Frage ist doch: Wieso Waffen abgeben, wenn der Konflikt noch nicht beendet ist. Jeder ander Konflikt in der Geschichte wurde ZUERST geloest, sprich ein Friedensvertrag ausgehandelt und DANN wurden die Konfliktparteien entwaffnet.

Und dann muss man den Kaempfern ja auch noch irgendwas im Gegenzug bieten koennen: Geld, Arbeit, irgendeine Beschaeftigung. Die haben doch nie was anderes gelernt...



Die Hamas, die uebrigens gar nicht unter diesem Namen, sondern als „Liste fuer Veraenderungen und Reformen“ antritt und damit maechtig Punkte nicht nur bei den Islamisten, sondern auch bei saekularen Protestwaehlern sammelt, die mit der Vetternwirtschaft und der Korruption innerhalb der Fatah-dominierten PLO unzufrieden sind, huellt sich bisher in Schweigen. Ueber einen eventuelle Regierungsbeteiligung und ueber Verhandlungen mit Israel wolle man erst nach den Wahlen reden. Manche sagen, sie werden auf jeden Fall verhandeln, andere beharren darauf, sich niemals mit dem Erzfeind an einen Tisch setzen zu wollen. Aber es ist ja auch Wahlkampf...

Klar sei jedoch, dass man sich nicht von den bewaffneten Fluegel und den Milizen (siehe Foto) trennen werde.


Im arabischen Ost-Jerusalem darf jetzt doch gewaehlt werden, wenn auch nicht in Wahlbueros, sondern nur per Briefwahl in bestimmten Postaemtern. Israel hatte sich zuerst komplett geweigert, die Wahlen im 1967 besetzten und anschliessend annektierten Ost-Teil der Stadt sttfinden zu lassen, mit der Begruendung, man wolle der Hamas nicht zu einem Wahlsieg verhelfen.

Schoen und gut, auch irgendwie verstaendlich. Nur leider duerfen die Bewohner von Ost-Jerusalem auch nicht an den israelischen Wahlen zur Knesset teilnehmen. Und das, obwohl die von Israel als „unteilbare und ewige Hauptstadt des juedischen Staates“ proklamierte Stadt wie gesagt als annektiertes und nicht als besetztes Gebiet angesehen wird. (Was die internationale Gemeinschaft uebrigens einstimmig nicht anerkennt: Alle Laender haben ihre Botschaften in Tel Aviv, nur die USA haben ein Konsulat in West-Jerusalem)

Richtigstellung (24.1.): Es gibt doch mehrere Konsulate in Jerusalem, eine genaue Liste gibt es hier, weitere Erlaeuterungen gibt's im Kommentar zu diesem Eintrag.


Fazit: Der Ost-Teil Jerusalems wird zwar als Teil des israelischen Staates angesehen, aber seine Bewohner haben nicht die selben Rechte wie die anderen Staatsbuerger, weil sie eben - dummerweise - Araber sind.

Nach massivem Protest aus Washington ("Wir kuerzen euch die Militaerhilfe, wenn ihr nicht artig seid!") darf jetzt jedenfalls gewaehlt werden, aber die Hamas darf keinen Wahlkampf machen und nicht auf den Stimmzetteln stehen. Aus israelischer Sicht durchaus verstaendlich, doch unverstaendlich fuer ein normales Demokratieverstaendnis. „Okay, ihr duerft waehlen, aber nur zwischen den Parteien, die uns in den Kram passen!“

Das waere so, als wuerde man in Deutschland sagen „Sachsen-Anhalt darf nicht bei den Bundestagswahlen mitmachen, schliesslich waehlen da so viele NPD!“


Waere einerseits zu begruessen, weil die NPD – wie die Hamas ja auch – eine demokratie-feindliche Partei ist, waere aber in keinster Weise zu rechtfertigen, zumal, wenn man behauptet, ein demokratischer Staat zu sein.

Wie dem auch sei: die offizielle israelische Linie ist die, dass nur Parteien an den palaestinensischen Parlamentswahlen teilnehmen duerfen, die keine Gewalt als Mittel der Politik propagieren.


Mein Vorschlag: Wie waere es, wenn an den israelischen Parlamentswahlen Ende Maerz nur Parteien antreten duerfen, die keine Gewalt als Mittel der Politik propagieren?


Dann waere man einem Frieden in dieser Region schon ein gewaltiges Stueck naeher...



Freitag, Januar 20

Verschwoerungstheorien, Ausflug nach Jericho und Stretchlimousinen

Ramallah, 20. Januar 2006

In Palaestina wird nicht nur das alltaegliche Leben und das Bedienen der Hupe etwas emotionaler gehandhabt als in Mitteleuropa, sondern auch der Wahlkampf. Da ist es mit Infostaenden in den ohnehin nicht vorhandenen Fussgaengerzonen nicht getan; Kugelschreiber verteilen habe ich auch noch niemanden gesehen.

Was es hingegen reichlich gibt sind ist zum einen extrem gezuckerter Tee (ich muss echt auf mein Zahnschmelz aufpassen!) und zum anderen die verschiedenste Verschwoerungstheorien, die ungefragt an mich herangetragen werden und sich wahlweise (haha, wie passend!) mit den Wahlen, den angeblich gar nicht stattfindenen Wahlen, der Rolle der USA in der Welt- und Nahostpolitik, juedischen Kaffehaeusern im Wien der 1920er Jahre oder dem Mossad beschaeftigen. Oder mit allem zusammen. Hauptsache man kann Unplausibles plausibel erklaeren und das Weltjudentum und der CIA haben irgendwie ihre Finger mit im Spiel...

Der Wahlkampf geht gerade in seine heisse Phase, die dichte der Plakate ist noch mal ordentlich gestiegen und neulich Nacht scheint ein ganzer Trupp Hamasianer durch die Stadt gezogen zu sein, jedenfalls weht seit einigen Tagen von jedem Strassenschild, von jedem Baum und jeder sonst irgendwie erdenklich und mit einer Leiter zugaenglichen Stelle die gruene Flagge dieser religioes-politisch-karitativen-terroristischen Vereinigung, die jetzt erstmals an den Wahlen teilnimmt und den Umfragen nach zwischen 25 und 35 % bekommen wird, in manchen Wahlkreisen, wie z.B. Gaza-Stadt auch um die 100 %.


Was meine persoenliche Rolle bei den ersten Parlamentswahlen seit 1996 (danach konnten sich Israel und die PLO nicht auf die Formalitaeten einigen, dann kam die Intifada dazwischen und Wahlen hatten sich ohnehin eruebrigt...) angeht, so werde ich am 25. Januar als Wahlbeobachter durch die Gegend fahren und schauen, ob auch alles nach fairen, freien, demokratischen Standards ablaueft und darueber wachen, dass niemand im Wahlbuero raucht oder seine Kalaschnikov mit rein nimmt. Denn beides ist laut Info-Broschuere der Wahlkommision verboten...

Die letzten Tage war Uwe, ein Freund aus Berlin da. Er war die letzten 4 Monate in einem Kibbutz und wollte die Gelegenheit nutzen sich mal das Leben auf der anderen Seite der Mauer anzugucken. Es tat gut, mal wieder ausgiebig in der Muttersprache sprechen zu koennen und wir haben dies bei stundenlangen Diskussionen ueber die grossen und kleinen Probleme dieses Planeten auch ausgiebig getan.

Gestern haben wir dann einen Tagesausflug nach Jericho am toten Meer unternommen. Gemaess meiner Karte sollte es eine direkte Strassenverbindung von Ramallah nach Jericho geben, aber irgendwie haben wir eine andere, leicht kompliziertere Route genommen.

Taxi zum Qalandya Checkpoint, rueber auf die "israelische" Seite, dort lange gewartet, bis genuegend Leut im Taxi waren.


Dann durch die Berge immer weiter runter geschlaengelt, von 850 auf -300irgendwas Hoehenmeter. Irgendwann passiert man den Markierungsstein der den Meeresspiegel anzeigt und dann geht es weiter bergab. Dann wieder ueber einen Checkpoint, den die Stadt Jericho ist A-Gebiet, untersteht also palaestinensischer Verwaltung, das gesamte Jordantal ist jedoch C-Gebiet, untersteht also israelischer Zivil- und Sicherheitsverwaltung.
Jericho selbst ist - nach dem derzeitigen Stand der Archeologie - die aelteste Stadt der Welt. 10000 Jahre alt. Sieht aber alles ziemlich neu aus. Sogar nagelneue Fahrradstaender haben die da, wahrscheinlich fuer die Fahhraeder.
Denn die gibt es dort, im Gegensatz zu Ramallah wirklich...



Jericho ist eine Oasen-Stadt inmitten der Wueste. So richtig mit Palmen und allem Pipapo. Fuer Touristen gibt es sogar ein Quoten-Kamel. Desweitern gibt es in Jericho jede Menge altes Gestein, einen 2000 Jahre alten Baum, auf den Jesus mal raufgeklettert sein soll. Um naeher an Gott zu sein oder um sich einen Ueberblick zu verschaffen oder was weiss ich. Dann waere da noch die Hoehle der Versuchung zu nennen, in der Jesus 40 Tage lang gefastet hat (das heisst er hat sich vegan ernaehrt) und der Satan in insgesamt drei mal in Versuchung gefuehrt hat.

Und suche mich nicht in der Unterfuehrung!


Von den Sehenswuerdigkeiten haben wir den Grossteil ausgelassen und sind einfach ein paar Stunden durch die doch recht kleine Stadt und ihr Umland geschlendert und haben den Ausblick auf das gruene Jordantal und die von der Abendsonne angestrahlten jordanischen Berge genossen, die sich auf der oestlichen Seite des Jordangrabens auftuermen.
Es war eine echter Klimaschock, von der regnerischen Kaelte in Ramallah nach weniger als einer Stunde Fahrt ( Luftlinie sind das etwa 35 km) hier in dieser warmen, sonnigen, palmenueberwucherten Oase anzukommen.



Zurueck in Ramallah haben wir dann festgestellt, dass es hier im Gegensatz zu Deutschland jede Menge Stretchlimousinen mit drei Tueren auf jeder Seite gibt. Und die sind nicht etwa zum standesgemaessen Transport von B-Prominenz gedacht, sondern fungieren als normale Sammeltaxis.

Uwe vermutet, sie seinen von Mercedes speziell fuer die Beduerfnisse von kinderreichen arabischen Grossfamilien gebaut und exportiert worden, ich hingegen glaube ja, dass sie als offizielles Transportmittel der Abu-Ali-Mustafa-Mehrtuerer-Brigaden gedacht sind...

Montag, Januar 16

Besuch in der Muqata' a

Ramallah, 14. Januar 2006


Heute habe ich mich nach einer sehr unruhigen und schlafarmen Nacht (Vollmond!) auf die Suche nach einer Handykarte gemacht. Und zwar wollte ich eine des israelischen Orange-Netztes, weil man mit dem überall – in Israel und Palästina - Empfang hat und es deutlich günstiger ist, in dieses Netz, statt ins palästinensische Jawwal-Netz zu telefonieren.


Beim Festnetz ist es ähnlich. Von Deutschland nach Israel zu telefonieren kostet mit Billig-Vorwahl 2 Cent die Minute. Eine palästinensische Nummer anzurufen kostet (auch mit Billig-Vorwahl) 4 Cent die Minute. Ist auch nicht furchtbar teuer, also in Ordnung, könnte man denken. Interessant wird es erst, wenn man erfährt, dass das Telefonnetz in den palästinensischen Autonomiegebieten von der staatlichen israelischen Telefongesellschaft betrieben wird. Und die berechnen einfach mal so das Doppelte. Obwohl es das selbe Netz ist.

Beim Strom – der kommt hier vom staatlichen israelischen Stromversorger – ist die Abzocke nicht ganz so extrem. Palästinensische Haushalte zahlen lediglich 10% mehr für die Kilowattstunde als Stromkunden, die das Glück haben, Israelis zu sein.

Ich muss wirklich aufpassen, dass ich hier nicht zum Israel-Hasser heranreife.

Aber wenn man diese systematische, alle Lebensbereiche betreffende Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Unterdrückung hier tagtäglich mitbekommt, dazu jeden Tag Geschichten von Vertreibung, beim Spielen während der Ausgangssperre erschossenen Kindern und Schikanen an den Checkpoints, dann kriegt man ein ganz schön dicken Hals.

Nicht auf DIE Israelis, sondern auf die Besatzungsarmee, die Siedler und die Regierungen, die, egal welcher Couleur, die Besatzung und den Ausbau der Siedlungen vorangetrieben haben. Wenn man wirklich Frieden gewollt hätte, hätte man die besetzten Gebiete nach der Eroberung zurückgeben können und – um Israels berechtigtes Sicherheitsinteresse zu wahren – im Falle eines Angriffes der Nachbarstaaten mit ernsthaften Maßnahmen drohen können.

An die andere Seite der Medaille werde ich hier nur durch die Märtyrer-Plakate und Wandsprüche erinnert. Junge Männer, die mit ihrem bisschen Bartflaum zwar noch nicht wie richtige Mujjahedin aussehen, sich aber mächtig Mühe geben, grimmig zu gucken. Wann die wo wie viel Leute mit in den Tod gerissen haben weiß ich nicht. Was ich weiß, ist dass diese Taten – aus welcher Vorgeschichte heraus sie auch motiviert gewesen sein möchten – brutal, menschenverachtend und einem dauerhaften Frieden – den ja angeblich alle wollen - alles andere nützlich sind.

Bei aller Skepsis (um es mal vorsichtig auszudrücken) der offiziellen israelischen Haltung gegenüber, bin ich gespannt, was die ganz normalen Leute in Israel über die ganze Sache denken. Denn natürlich gibt es auch auf der anderen Seite der Apartheids-Mauer nette, aufgeschlossene und friedfertige Menschen, die nicht glücklich sind mit der ganze Scheiße, die in ihrem Namen hier fabriziert wird. Es gibt dort beispielsweise die Refuseniks, SoldatInnen, die sich weigern, in den besetzten Gebieten Dienst zu leisten. Und ich freue mich darauf die andere Seite kennen zu lernen, wenn ich das Kernland Israel bereise…


Doch mein ursprüngliches Vorhaben - eine simple Telefonkarte zu kaufen - war nicht so leicht, wie es eigentlich sein sollte. Es gab nirgendwo welche. Überall die gleiche Antwort: Mumkin bukra! Morgen vielleicht!


Statt dessen war ich dann in der Muqa´ata, dem Amtsitz des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas und habe das Grab von Yassir Arafat besucht. Das Areal selbst wurde in den 1920er Jahren von den Briten als Gefängnisanlage gebaut, ist einige Hektar groß und von einer meterhohen Mauer mit sandsackbefestigten Wachtürmen umgeben. Alles in allem aber eher runtergekommen und lächerlich als protzig und bedrohlich.

Kein Vergleich zum Kanzleramt oder Downing Street Nr. 10 jedenfalls. Ich fahre jetzt seit 10 Tagen zwei mal täglich daran vorbei und jetzt wollte ich das Ganze auch mal von Innen sehen.

An den Eingangstoren stehen immer einige Sicherheitskräfte mit den dunkelgrünen Baretten der PNA (Palestinian National Authority) und halten sowohl Wache als auch ihre Kalaschnikows wie angewachsen in den Händen. Und zwar nicht diese doofen, lächerlichen mit Holzkolben, sondern die coolen, die mit der ausklappbaren Schulterstütze.




Alle waren sehr freundlich und neugierig, woher ich komme, was hier mache und so weiter. Sogar Englisch sprachen sie teilweise. Im Gegensatz zu Syrien nehmen sie hier bei den Sicherheitsdiensten wohl nicht jeden Trottel, sondern nur Trottel mit Schulabschluss.


Innen drin wimmelt es vor Jeeps und Uniformierten, ein großen Portrait auf einem Rundbogen markiert den Eingang zum Büro des Präsidenten. Der Schutt der während der Belagerung des Amtsitzes 2002 durch massiven Panzerbeschuss zerstörten Gebäude ist notdürftig zur Seite geschafft worden, trotzdem sieht es noch immer aus wie eine Baustelle.


Das Grab Arafats selbst ist eine kleine gläserne Gruft, davor Blumengestecke und eine Gedenktafel. Die beiden wachhabenden Ehrengardisten lümmeln dick eingepackt auf Plastikstühlen herum und springen, als sie mich kommen sehen, auf, um in ehrwürdiger Haltung zu beiden Seiten des Arrangements Stellung zu beziehen.



Es ist geplant, das doch sehr dürftige und der Person Arafat ganz und gar nicht würdige Gewächshaus-Grab demnächst in ein echtes Mausoleum mit Moschee auszubauen.



Immerhin: das Bauschild steht schon. Der Rest wird – inscha´llah! - in den nächsten 2 bis 20 Jahren folgen.


So ruhig und relaxt die Araber sind wenn es um Arbeiten, um Erledigungen oder einfach nur für den Begriff von Zeit geht (was mir sehr sympathisch ist) und was sich in so schönen Sprichwörtern wie „Als Allah die Zeit schuf, schuf er sie reichlich“ und „Wer keine Zeit hat, ist bereits tot“ wieder spiegelt, so hektisch und ungeduldig sind sie in anderen Lebensbereichen.

Beispielsweise Ungeduld im Straßenverkehr:

Da wird gehupt, was das Zeug hält, mit Vorliebe um den anderen Verkehrsteilnehmern zu signalisieren, dass man bald zum Überholen ansetzt, gerade am Überholen ist oder jetzt mit dem Überholen fertig ist. Oder um dem Vordermann klar zu machen, dass die Ampel, an der man gemeinsam steht in den nächsten paar Sekunden grün werden wird.

Auf den Straßen sind deswegen auch alle paar hundert Meter so Hubbel (im englischen nennt man die Dinger „bumpers“) nachträglich angebracht worden, damit die Autos abbremsen müssen. Ohne diese Hindernisse würden sie sich alle zu Tode heizen.

Anderes Beispiel für Ungeduld:

Bus oder Sammeltaxi kommt an seinem Ziel an. Und anstatt die Leute erst mal aussteigen zu lassen, drängeln die Wartenden hinein, sobald sich die einzig vorhandene Türe öffnet. Heute habe ich die Reindrängelnden einfach mal auf deutsch angequatscht, nach dem Motto:

„Ey Alter, lass uns doch ersma austeigen!!!“ Hat natürlich niemand verstanden, aber musste mal sein. Ich erwarte ja nicht, dass sich Palästinenser wie die Engländer in Reihen aufstellen, selbst wenn sie nur zu zweit sind, aber ein bisschen mehr Rationalität und ein Funken Disziplin könnte denen wirklich nicht schaden.

Wobei wir beim dritten Beispiel für Ungeduld wären:

Nachdem sich die Israelis im August 2005 nach 38jähriger Besatzung aus dem Gaza-Streifen zurückgezogen haben, konnten viele Palästinenser zum ersten Mal ans Meer, welches zwar all die Jahre direkt vor ihrer Nase lag, aber als Privatstrände für die ideologisch verblendeten Vollidioten von Siedlern reserviert war.

Die wollten natürlich eigene Strände für ihre schmucken Häuser, ist ihnen ja auch nicht zuzumuten mit Arabern zusammen den Sonnenuntergang anzuschauen.

Genauso wenig wie es weißen Südafrikanern zuzumuten war, die selben Strände wie Neger zu benutzen – wo kämen wir den da hin?!?

Aber ich schweife schon wieder ab. Was passiert also, als die Palästinenser im Freudentaumel zu den ihnen nun zugänglichen Strände rennen? Sechs Leute ertrinken, weil sie nicht schwimmen können, aber trotzdem unbedingt ins Wasser mussten.

Das ist echt symptomatisch für die arabische Geisteshaltung. Immer Yalla!Yalla! ohne mal ne Sekunde (über mittel- und langfristige Folgen) nachzudenken. Aber, um mit Wiglaf Droste zu sprechen: Gaza-Streifen interessiert mich nicht – ich habe selbst Problemzonen genug!

Eine weitere skurrile Entdeckung des heutigen Tages war, dass es beim Buchhändler zwar keine englischsprachigen Bücher gibt, dafür aber „Mein Kampf“ und „Sophie´s Welt“ in trauter Eintracht nebeneinander unter der Rubrik Philosophie stehen.

Beim Pizza essen (übrigens sehr zu empfehlen: „Mr. Pizza“ in Al-Bireh. Riesige, knusprige Pizza mit ca. 5 cm dickem Belag für 30 Schekel. Und ich habe sie trotz Bärenhungers nur mit Mühe und Not geschafft, was echt was heißen will...) haben mir dann zwei freundliche ältere Damen Hamas-Wahlwerbeprospekte zugesteckt und mich gebeten, doch bitte Hamas zu wählen. Dass ich persönlich lieber DIE PARTEI wähle, habe ich ihnen nicht erzählt, zumal deren Slogan „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten!“ in dem hiesigen Kontext alles andere als witzig ist.

Belagerungs-Blitz-Bier

Ramallah, 13. Januar 2006

Die letzten Tage ist nichts wirklich aufregendes passiert. Die übliche Routine aus Frühstück, Taxifahrt, Büro, einkaufen, Taxifahrt, Tasse Tee plus Zigarette bei Abu Jamal, Nachrichten gucken, Bett.

Aber ich habe sehr gute Materialien für meine Diplomarbeit gefunden. Teilweise Sachen, die ich in Deutschland seit Ewigkeiten gesucht habe – die stehen im Büro einfach so im Regal. Und ich habe festgestellt, dass ich nicht der erste bin, der sich mit dem Mediensystem Palästinas auseinandersetzt. Es gab schon andere vor mir.

Was gut ist, denn so kann ich auf deren Arbeiten aufbauen und muss nicht ganz bei Null anfangen. Und es hat sich in den letzten ein, zwei Jahren anscheinend einiges getan, so dass es auf jeden Fall spannend bleibt.

Die beiden Deutschen, die über mir im Haus wohnen, sind gestern Abend aus Jordanien zurückgekommen. Beide sehr nett und vor allem Volker hatte einiges zu erzählen. Er ist seit drei Jahren hier und hat in seinem ersten Jahr die Belagerung von Ramallah miterlebt. Die israelische Armee hatte direkt vor dem Star Mountain Rehabilitation Center, wo wir wohnen, einen Checkpoint errichtet und so die einzige Straße, die Ramallah mit der nördlichen Westbank verbindet unter Kontrolle. Ramallah war komplett umzingelt, von der Außenwelt abgeriegelt. Niemand konnte rein oder raus.

Als sich die Armee dann nach Monaten der Belagerung und Wiederbesetzung (Ramallah gehört laut Oslo-Abkommen zur A-Zone, untersteht also palästinensischer Sicherheits- und Zivilverwaltung) zurückgezogen hat, war die Stadt nicht wieder zu erkennen. Die Innenstadt war komplett zerschossen, der Amtsitz des Präsidenten durch massiven Panzerbeschuss in Mitleidenschaft gezogen und überall ausgebrannte und platt gewalzte Autos.

Kaum zu glauben, wenn man die Stadt heute sieht. Bisher habe ich nur an einem (leer stehendem) Haus Einschusslöcher gesehen.

Apropos Rumgeballer: Was die Schüsse vor ein paar Tagen anbelangt, so habe ich einen Mitfahrer im Taxi gefragt, was es damit auf sich hatte. Die Antwort ist ebenso einfach wie einleuchtend. Es war der Jahrestag der Aufnahme des bewaffneten Kampfes der PLO. Und das wird natürlich jedes Jahr mit Freudenschüssen gefeiert. Wobei ich mich frage, was die denn eigentlich feiern – erreicht haben sie doch nichts.

Klar, sie haben jetzt eine eigene Regierung. Die kann aber ohne die Zustimmung Israels rein gar nichts von Bedeutung beschließen, ist chronisch pleite und komplett korrupt. Aber die Situation der Palästinenser ist aussichtsloser denn je. Und es gibt keinerlei Hoffnung auf Besserung. Eher im Gegenteil. Immer mehr Gebiete werden durch die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik annektiert, die fruchtbaren Ebenen im Jordantal sind komplett in israelischer Hand.



Das Territorium eines eventuell zukünftigen Staates schrumpft und schrumpft, während die Bevölkerung wächst und wächst. Palästina hat einen jährlichen Bevölkerungszuwachs von 3,74%. Zum Vergleich: Deutschland hat 0,07%.

Neulich zog abends ein Gewitter auf. Ich saß im Büro, als es plötzlich blitzte und sofort danach donnerte. Mein erster Gedanke war: israelischer Luftangriff!

Da sieht man mal, wie schreckhaft und paranoid man wird, wenn man nur eine Woche (in friedlichen Zeiten) in dieser Region ist. Als ich das einem alten Mann im Kaffeehaus erzählt habe, musste er lachen und meinte, dass es vielen hier auch so geht, wenn sie Donner hören.

Dann erzählte er noch, dass er direkt am Fuße des Hügels wohnt, auf dem die jüdische Siedlung ist und das die Siedler im schon mehrmals sämtliche Fenster zerschossen haben. So macht man sich also bei seinen Nachbarn unbeliebt…

Gestern Abend habe ich mir das erste Mal ein Bier gegönnt. Taybeh – the finest in the Middle East. Gebraut nach dem deutschen Reinheitsgebot von 1516 in Ramallah. Ist süffig, kostet nur 6 Schekel (1,10 €) die Flasche und man unterstützt die lokale Wirtschaft, anstatt teures Importbier aus Deutschland oder Holland zu kaufen (Beck´s und Heinecken kosten 20 Schekel). Außerdem haben sie verdammt coole Werbung, wie ich heute bei einem Spaziergang durch den Westen der Stadt entdecken konnte.




Insgesamt ist das Preisniveau hier erstaunlich hoch. Preise wie in Deutschland. Was enorm ist, wenn man bedenkt, wie wenig die Leute hier verdienen. Die können sich viele Dinge, die es in dem doch recht vielfältigen Angebot gibt, gar nicht leisten. Produkte, die vor Ort hergestellt werden sing günstig, zum Beispiel Brot oder eingelegte Oliven. Da gibt es 200 Gramm für einen Euro. Aber alles andere, was aus dem Ausland (meistens aus Jordanien oder Israel) importiert werden muss, ist richtig teuer.

Ansonsten haben wir hier seit Tagen praktisch Dauerregen, immer wieder dichten Nebel und eine unangenehme Kälte, die einem die Hosenbeine hoch kriecht. Dazu kommt, dass die Häuser, insbesondere die Fenster, extrem schlecht isoliert sind. Lohnt sich ja auch nicht, teuer Geld für gute Isolierung auszugeben, wenn´s ohnehin nur zwei Monate im Jahr richtig kalt wird. Aber bei einem solchen Wetter möchte man am liebsten gar nicht aus dem Bett kriechen. Ich werde mir demnächst mal ein, zwei Tage frei nehmen und entweder ans Tote oder ans Rote Meer fahren, mal gucken, was sich ergibt. Schließlich muss ich es ausnutzen, dass die Entfernungen in diesem Landstrich so gering sind.

Und ich mit meinem Pass genieße – im Gegensatz zu Palästinensern UND Israelis - das Privileg nahezu uneingeschränkter Bewegungsfreiheit. Denn die dürfen nicht einfach so in die Gebiete des jeweils anderen fahren. Ist ja auch zu gefährlich, wenn man sich seit Jahrzehnten anfeindet…

Ab morgen sind die Feiertage von Eid Al-Adha vorbei und das normale, turbulente, laute chaotische, sympathisch-improvisierte Leben geht wieder los. War schon mächtig strange die letzten Tage. Kaum Leute und Autos auf den Straßen, bis auf wenige Ausnahmen hatten alle Geschäfte zu. Es war richtig schwierig was zu essen zu kaufen. Nicht einmal das gewohnte Hupkonzert erfüllte die Stadt mit Leben. Aber wie gesagt, ab morgen gibt es wieder die volle Dröhnung arabischen Innenstadt-Flairs. Ich freue mich schon drauf!

Donnerstag, Januar 12

Reise nach Jerusalem

Ramallah, 10. Januar 2006


Nach einer ziemlich unruhigen Nacht bin ich heute um 7 aufgestanden. Ja wirklich, auch wenn es mir niemand glauben wird…

Da heute Eid Al-Adha, das islamisch Opferfest ist, läuft das öffentliche Leben nur im ersten, statt wie sonst mit Vollgas im vierten Gang. Das Opferfest ist neben dem Rammadan das höchste Fest im islamischen Kalender.

Man gedenkt an den guten alten Stammvater Abraham (aka Ibrahim), dem von seinem Gott (aka Allah) in Beer Sheva befohlen wurde, seinen Sohn (ich glaube, es war Isa´ak) zu opfern, um zu beweisen, dass er wirklich an ihn glaubt.

Also wanderte er mit seinem Sohn die 85 km nach Jerusalem (aka Yerushalim, aka Al-Quds), um ihn dort auf dem Felsen, der heute im Inneren des Felsendomes liegt, zu opfern. Doch im letzten Moment, das Messer war schon an des Sohnemanns Hals, rief Gott aus dem Himmel herab: „Lass gut sein, Alter! Ich glaube dir!“


Und um dieser absoluten Hingabe und Gottesfürchtigkeit zu gedenken, opfern die Moslems an diesem Tag einen Hammel. Jede Familie, die es sich leisten kann, kauft sich einen Hammel. Wer besonders wohlhabend ist, spendet armen Familien eine Haxe oder zwei.


Wenn aber jede Familie einen Hammel braucht, kann man sich in etwa vorstellen, wie viele Hammel an einem solchen Tag geschlachtet werden. Und zwar helal, also nach den Regeln des Koran. Das heißt: Bismi´llah (im Namen Gottes) murmeln, Halsschlagader mit einem Schnitt durchschneiden und das Tier komplett ausbluten lassen.




Ich habe das Opferfest 1998 schon einmal in Chefchauen im Rifgebirge in Marokko miterlebt und die Bilder gleichen sich: Überall Hammel, die gespannt darauf warten, was wohl kommen wird und Blut, das in Strömen die Rinnsteine hinunterfließt.


Jedenfalls habe ich mir gedacht: das ist der ideale Tag, um mir mal Jerusalem anzugucken. Jerusalem bedeutet uebrigens "Stadt des Friedens". In der Bibel steht aber:

Und es soll geschehen an jenem Tage, dass ich Jerusalem zum Laststein für alle Völker machen werde; alle, die ihn heben wollen, werden sich daran wund reissen; und alle Nationen der Erde werden sich gegen sie versammeln. (Sacharja 12,3.)

Mit alle Nationen der Erde ist wahrscheinlich die UNO-Vollversammlung gemeint. Die hat sich zwar schon mehrmals in Resolutionen beispielsweise gegen die Annektierung Ost-Jerusalems durch Israel ausgesprochen. Nur gebracht hat es nie was, weil eine Supermacht mit drei Buchstaben stets ihr Veto einlegt...

Also ab ins Taxi zum Qalandya Checkpoint. Zu Fuß entlang der Mauer zum Checkpoint. Dort angekommen muss man durch eine terminalartige Wartehalle, durch unzählige Drehkreuze und durch Absperrungen durch. Auf Schildern steht „Welcome“ und „Have a nice and safe stay“.


Dann der eigentliche Übergang. Security checks wie am Flughafen, nur irgendwie krasser. Metalldetektor-Tor, Röntgenapparat mit Laufband für Jacken, Taschen, etc. . Vor ein paar Wochen wurde ein Soldat an diesem Checkpoint von einem Palästinenser erstochen, deswegen sitzen die Soldaten jetzt hinter massivem Panzerglas in einem Kontrollraum. Heute sind es zwei Mädels, die bestimmt noch keine 20 sind . Pässe, bzw. ID-Karten muss man an die Scheiben halten. Aus den Lautsprechern quäken sie gebellte Befehle auf arabisch mit furchtbarem hebräischem Akzent.

Auf der anderen Seite der Mauer warten die Busse und Taxis.

Wieder im Bus entlang der Mauer, dann auf die Straße nach Jerusalem. Nach ein paar Kilometern muss der Bus an einem provisorischen Checkpoint anhalten. Zwei Soldaten, einer von ihnen äthiopischer Jude (die behaupten, der verloren gegangenene 13. Stamm der 12 Stämme Israels zu sein), steigen ein und kontrollieren Pässe und Taschen. Schon ein seltsames Gefühl, wenn man in dem engen Mittelgang des Busses ein geladenes Sturmgewehr direkt vor der eigenen Nase baumeln hat.

Am Damaskustor angekommen begebe ich mich in das Gassenlabyrinth der Altstadt und laufe einfach drauf los. Wegen besagtem Feiertag habe alle muslimischen Geschäfte geschlossen und kaum jemand ist unterwegs. Und die Christen haben auch größtenteils zu, weil sich das Geschäft heute nicht lohnt.

Also der ideale Tag, um die Stadt zu erkunden ohne von aufdringlichen Händlern belagert zu werden.

Im Christenviertel riecht es nach Weihrauch, an jeder zweiten Straße ist eine Kapelle, eine Kirche oder eine Höhle, in denen wahlweise ein Heiliger, ein Jünger oder gleich Jesus selbst gewohnt, gestorben, begraben oder gefangen gehalten worden ist. In der Grabeskirche kann man für teuer Geld Kerzen kaufen (KERZNKAUFN! KERZNKAUFN! Kreuzberg lässt grüßen…), die dann ein Ober-Guru anzündet, weiht und wieder auspustet. Dann kann man sie mit nach Hause nehmen und aufheben, bis man mal ein frommen Wunsch hat oder so. Und die Leute stehen Schlange und werfen sich auf den kalten Steinboden um sich in Gymnastik und Demut zu üben.

Im muslimischen Viertel das gewohnte Durcheinander von Krämerläden, Falafelständen und Horden von Kindern, die mit Plastikwaffen auf sich, mich und ins leere schießen. Über die ganze Szenerie hallt das Gebell eines grottenschlechten Muezzins, der klingt wie eine besoffene Kuh. Aber wie gesagt, das Getümmel ist stark eingeschränkt, weil großen Fressen mit der Familie ansteht. Wenigstens müssen die Moslems nicht frieren, die haben Teppiche in ihrer Moschee.

Im jüdischen Viertel ein Durcheinander von Orthodoxen in schwarzen Mänteln mit Hut und Kippa, Soldaten und Sicherheitsleuten, Kindern, die bereits im zarten Kindergartenalter Schläfenlocken und Kippa tragen und stark übergewichtigen amerikanischen Touristengruppen. Überhaupt hört man sehr viel american english. Ich glaube fast es gibt in Israel mehr amerikanische Juden, die zu Besuch sind, als es israelische Juden gibt. Und überall krächzen Funkgeräte, jeder dritte trägt eine Waffe und es ist sehr viel ordentlicher und sauberer als im Rest der Stadt. Oft sind auf den dreisprachigen Straßenschildern die arabischen Bezeichnungen mit Stickern überklebt und man sieht hin und wieder die orangenen Bändchen der Abzugsgegner. Und Flaggen natürlich. Flaggen überall. Textil-patriotischer als das hier ist wahrscheinlich nicht einmal der Mittlere Westen der USA.

Bevor man auf den großen Platz vor der Klagemauer kommt, gibt es eine zusätzliche Sicherheitsschleuse. Wieder die Auszieh- und Röntgenprozedur. Ich weiß gar nicht, wie oft meine Sachen in der knappen Woche, die ich jetzt hier bin schon geröntgt wurden. Ich muss schon strahlen wie ein kleiner Castor…



Die Klagemauer selbst ist beeindruckend. Zwar sehr viel kleiner (nur 50 Meter lang) als ich sie mir vorgestellt habe, aber auf jeden Fall ergreifend. Unmengen von Orthodoxen, teilweise mit praktischen Plastiküberzügen über ihren Hüten, nur für den Fall, dass es zu regnen beginnt. Eine anonyme Masse von schwarz gekleideten orthodoxen Männern (die Frauen beten getrennt in einem abgegrenzten Bereich, wie es sich gehört in einer anständigen patriarchalen Religionsgemeinschaft) mit Hut und Schläfenlocken, alles sehen sich zum Verwechseln ähnlich.



Es hat schon etwas surreales, einen orthodoxen Juden in traditioneller Kleidung, ganz in schwarz zu sehen, um dann zu entdecken, dass er weiße Ohrstöpsel drin hat und in seiner Manteltasche einen I-Pod trägt. Apple sollte das mal als Plakatmotiv verwenden...


Direkt an der Klagemauer beten die Männer wippend und murmelnd vor sich hin, ein Soldat in Uniform betet mit umgehängtem Gewehr.


Laut Hinweistafel ist das Sprechen vor der Mauer auf ein Minimum zu reduzieren, sofern es nicht dem Lobpreisen des Herrn dient. Außerdem ist Betteln verboten. Ungeachtet dieser beiden Regeln spricht mich ein älterer Mann an und fragt mich, woher ich komme. Auch wenn ich immer die Haltung vertrete, dass meine Generation die Nazi-Verbrechen zwar erinnern und im Bewusstsein halten, nicht jedoch dafür verantwortlich gemacht werden sollte, ist es ein komisches Gefühl „Germany“ zu sagen. Dennoch eine (gast-) freundliche Reaktion seinerseits.

Und dann rückt er mit seinem eigentlichem Anliegen heraus: Er sammelt im Auftrag einer staatlichen Einrichtung Geld für wohltätige Zwecke für jüdische Familien mit vielen Kindern.


Mein erster Gedanke war: Äh, wieso, Israel bekommt allein von den USA knapp 3 Milliarden US $ Entwicklungshilfe im Jahr, das ist mehr als der gesamte afrikanische Kontinent, reicht das denn nicht? Wieso sind arme Neu-Köllner Studenten für die soziale Sicherung kinderreicher Familien zuständig?


Ich hab es dann aber doch etwas anders und höflicher formuliert.


Um beim Thema zu bleiben: Bei den Souvenirständen gibt es Unmengen hurra-patriotischer T-Shirts und Aufkleber, zum Beispiel „Support Israel – now more than ever“ und „Fight terrorism – support the IDF“. Aber der allerbeste war „America don´t worry – Israel stands behind you“, das ganze geschmückt mit einem schnuckeligen F-18 Kampfjet.

Naja, es ist wohl eher andersrum, aber darum soll es jetzt nicht weiter gehen. Aber Humor haben sie schon die T-Shirt-Sprüche-Designer, das muss man ihnen lassen. Der beste Beweis dafür ist das T-Shirt „I got stoned at Gaza“.


In Jerusalemer Psychatrischen Klinik werden ca. 200 Personen im Jahr mit dem sogenannten „Jerusalem-Syndrom“ eingeliefert. Bei den Patienten handelt es sich meist um junge Männer aus religiösem (christlich oder jüdischem) Elternhaus, die, als Tourist das erste Mal in Jerusalem, überwältigt von der überladenen Spiritualität und Geschichte der Stadt, durchdrehen und sich wahlweise für den Messias, Jesus Christus, König David oder sonst irgendeine biblische Gestalt halten.

Oder sich, ganz in der Tradition der Speaker´s Corner im Londoner Hyde Park, selbst für einen neuen Propheten halten. Life of Brian lässt grüßen. Die Betroffenen werden dann ein bis zwei Wochen therapeutisch behandelt und dann wieder auf die Menschheit losgelassen. Aber zumindest ist dann der euphorisch-überschwengliche Mitteilungsdrang einer inneren Genugtuung gewichen.

Aber keine Angst, bei mir ist das genaue Gegenteil eingetreten: Ich bin mir der Sandkornhaftigkeit meiner Existenz in Zeit und Raum verstärkt bewusst geworden und kann über die drei Religionen, die ich heute hautnah miterleben durfte, noch lauter schmunzeln als zuvor.

Zum Abschluß mal wieder eine kleine Preisfrage:

Woher kommt der Name des Spiels „Reise nach Jerusalem“?

Kommt es, wie meine Schwester Marte behauptet, daher, das zur Zeiten der Immigration nach Israel die Plätze auf den Schiffen begrenzt, aber sehr begehrt waren? Deswegen mehr Mitspieler als es Stühle gibt?

Wer eine genaue Antwort weiss: Her damit!!

Zu gewinnen gibt es diesmal, ääääh, äh, sagen wir, zu gewinnen gibt es detailierte Auskünfte darüber, wann und wo der Messias wieder auftaucht. Gute Nacht!


Dienstag, Januar 10

Antisemitismus vs. Völkerverständigung

Ramallah, 9. Januar 2006



Das Übliche: Nach dem Frühstück mit dem Sammeltaxi nach Ramallah down town.

Keine 5 Sekunden, nachdem ich eingestiegen bin, pampt mich von hinten eine aggressive Stimme an und fragt auf arabisch, ob ich Jude sei. Ich drehe mich um und erkläre ihm:

„Nein, ich bin kein Israeli, ich komme aus Deutschland.“ Ob ich denn deutscher Jude sei, will der stiernackige Türsteher-Typ wissen. Da mein Arabisch leider nicht ausreicht, um ihm meine ganz persönliche pantheistisch-agnostische Spiritualität zu erklären, begnügte ich mich mit der knappen Antwort: „Nein, ich bin Christ.“


Religionen spielen in diesem Konflikt eine viel zu große Rolle, dafür, dass sie angeblich alle das selbe (nämlich Frieden) wollen, sich auf die selben Urväter (Abraham, Moses und Konsorten) berufen und lediglich von ihren jeweiligen selbsternannten Statthaltern auf Erden instrumentalisiert werden.


Überhaupt ist es mir schon ein paar mal passiert, dass mich Leute mit „Shalom!“ ansprechen. Irgendwie seltsam. Nicht dass ich persönlich ein Problem damit hätte, für einen Israeli gehalten zu werden, aber in der hiesigen Situation hat es doch einen leicht bedrohlichen Beigeschmack, so dass ich dieses Missverständnis immer gleich aus dem Weg räume.


Die Menschen hier kennen keine israelische Zivilisten. Die einzigen Israelis, die sie kennen, sind Soldaten, die sie an den Checkpoints kontrollieren und Siedler, die ihnen ihr Land stehlen.

Und ihre Wut auf diese ist verständlich. Der Begriff „Jude“ ist so was wie ein Synonym für Soldat. Die Kinder in Palästina spielen auch nicht Räuber und Gendarm, sondern Jude und Araber.

Die Kinder imitieren in diesem Spiel, was sie täglich erleben. Sie bilden zwei Gruppen. Die einen sind „die Juden“, die anderen „die Araber“. Die „Juden“ suchen sich Holzstücke. Das ist das Gewehr oder der Schlagstock. Sie sammeln auf der Straße liegen gebliebene Patronenhülsen und Gasgeschosse. Damit verfolgen sie die „Araber“. Sie greifen ihre Holzstöcke, zielen damit auf ihre Spielgefährten und schießen: „Toch, toch, toch!“. Andere nehmen sich eine Tüte, halten sie vor den Mund und rufen im nachgemachten Hebräischen Akzent: „Wir verkünden hiermit, dass soeben über das Lager Schati eine Ausgangssperre verhängt wurde!“. Dann laufen sie durch die Gassen, hämmern an die Türen von Leuten, auf deren Hauswänden PLO-Parolen stehen und schreien: „Macht die Sprüche weg! Los, fegt die Straße!“. Die „Araber“ werfen mit Steinen zurück. Kinder im Alter von 3 oder 4 Jahren bauen Straßensperren. Natürlich keine richtigen Straßensperren, aus großen Steinbrocken, Müllcontainern und brennenden Autoreifen, sondern aus kleinen Steinen, Murmeln und leeren Cola-Dosen. Die Passanten dürfen an dieser Sperre erst vorbei gehen, wenn sie die Hand zum Victory-Zeichen erhoben haben.

(aus: Ivesa Lübben/Käthe Jans: Kinder der Steine)


In ihrem Buch „Gaza – Tage und Nächte in einem besetzen Land“ erzählt Amira Hass, wie ein kleines Mädchen ihre Mutter fragt, ob denn die Juden auch als Babys auf die Welt kommen wie wir oder ob sie schon von Anfang an ein Gewehr über der Schulter hängen haben.


Und eine Arbeitskollegin hat mir die Geschichte von einem 4-jährigen Jungen erzählt, der, auf ihre Frage, was er denn später mal werden will voller Begeisterung antwortete: „Ich will Jude werden!“ Und auf die Nachfrage warum denn, erklärte er: „Juden haben Gewehre und dürfen Panzer fahren und dürfen Papa sagen, was er zu tun hat.“


Aber bei all dem gegenseitigen Misstrauen, Hass und schlichtem Unwissen ueber die andere Seite sollte man nicht vergessen, dass die ueberwaeltigende Mehrheit der Menschen hier einfach nur in Frieden mit Israel als Nachbar leben will. Aber wenn die Leute, die sie staendig schikanieren allesamt juedischen Glaubens sind, schlaegt sich das eben zwangslaefig in anti-juedischen Einstellungen nieder.

Denn zwischen "den Juden" und "der israelischen Besatzungsarmee" zu differenzieren ist zwar dringend noetig, aber nicht leicht. Und diese Differenzierung kriegen so nicht einmal akademisch gebildete deutsche Moechte-gern-Linke hin, wieso muss man es dann von einem palaestinensischem Arbeiter verlangen?

Kritik an der Besatzungspolitik? Unterschreibe ich sofort!

Verallgemeinerungen auf das gesamte Judentum? Nein, dagegen!


Ein sehr schoenes Beispiel fuer gelebte Voelkerverstaendigung hingegen ist der Mann auf diesem Bild, das ich heute in der idyllischen Fussgaengerzone von Ramallah gemacht habe:


Dieser werte Herr hat absolut kein Problem damit, ein Palaestinensertuch zu tragen und trotzdem vor israelischen Obstkartons gemütliche seine Narghile zu rauchen. Daran sollten sich so manche Sturköpfe in aller Welt mal ein Beispiel nehmen...


VöLKER DIESER WELT, RELAXT !!!


P.S.: Ich habe zahlreiche Antworten auf die Orientierungsfrage bekommen. Danke an alle, die mir geschrieben haben, es ist schön, so viele Mails aus der fernen Heimat zu lesen. Gewonnen hat nach dem jetzigen Stand der Dinge eindeutig Anna, die die beste, zutreffenste und plausibelste Definition mitsamt Link zur Quelle geschickt hat.

Alltagsbeobachtungen

Ramallah, 8. Januar 2006

Heute war extrem ekliges Wetter: kalt, Nebel mit Sichtweiten um die 50 Meter, dazu Regen und leichter Wind. Dementsprechend war meine Lust bett und Haus zu verlassen minimal.

Im Büro habe ich die beiden palästinensischen Mitarbeiterinnen Sonia und Hadil kennen gelernt. Kurze Gespräche über mein Vorhaben, wieder einige Namen und Telefonnummern von Leuten, die mir weiterhelfen können bekommen.


Danach habe ich die Vorzüge neuster Informations- und Telekommunikationstechnologien genutzt und Emails gecheckt, Emails geschrieben, lange mit Sonja in Berlin telefoniert und anschließend noch mit ihr und Lilia gechattet.


Plötzlich waren von draußen Schüsse zu hören. Erst einzelne Schüsse, dann mehrere MG-Salven. Zwischendrin ein paar lautere, heftigere Explosionen. Ich bin auf den Balkon gegangen, konnte aber wegen dem dichten Nebel nichts sehen und auch nicht genau verorten, von wo die Schüsse kamen. Vom Klang her war es nah, aber nicht in direkter Nachbarschaft.


Was ich allerdings sehen konnte, war, dass die Leute unten auf der Straße seelenruhig weiter spaziert sind und sich nicht einmal umgesehen haben. Die Bewohner von Ramallah (ach Quatsch: alle Palästinenser) haben in den letzten 39 eben schon heftigere Feuergefechte mitbekommen, als dass sie sich wegen ein bisschen Kalaschnikow-Geballere beim Telefonieren, einkaufen oder bei sonst was stören lassen würden.


Was für mich ein beunruhigendes und bisher nicht da gewesenes Ereignis war, ist für die Menschen, die hier leben groß nichts besonderes. Aber warum auch? Die Menschen wollen und müssen ihren Alltag leben.


Überhaupt bin ich immer wieder verwundert und positiv überrascht, wie normal das leben hier ist. Sicherlich gibt es in Palästina Flüchtlingslager, in denen ganz sicher nicht eine so weltstädtische Atmosphäre herrscht. Aber in Ramallah gibt es so gut alles, was es sonst überall auch gibt: Designerboutiquen, Geldautomaten, Restaurants, Internetcafés…


Man sieht keine verschleierten Frauen, Kopftücher schon hin und wieder, die Leute haben die allerneuesten Handys, die aktuellsten Klamotten. Nur die Jugend ist nicht ganz so vom Konsum verdorben und auf Pseudo-Ghetto-Getue getrimmt wie ihre gleichaltrigen pan-arabischen Landsleute in Berlin.


Beim Einkaufen hatte ich unzähligen kleinen Läden Gelegenheit meinen Grundwortschatz Arabisch anzuwenden. Und ich hatte eine kurze Unterhaltung mit zwei Süßigkeitenverkäufern, die zwar englisch sprachen, aber nicht gerade helle waren, David Beckham für einen Deutschen und Ronaldinho für einen Franzosen hielten und unbedingt von mir wissen wollten, wen ich am Besten finde: Arafat, die Hamas oder Scharon.


Da ich mich bei solchen Grundsatzdiskussionen lieber raushalten, habe ich ihnen erklärt, dass ich hier nur zu Besuch und auch nicht wahlberechtigt bin und Günter Beckstein für mich der größte Politiker aller Zeiten ist.