Montag, Januar 30

Die Sache mit den Checkpoints

Ramallah, 29. Januar 2006


Nachdem ich die letzten Wochen unschlüssig war, an welchen Tagen ich mein Wochenende machen soll, habe ich mich nun entschlossen - trotz meiner agnostischen Grundüberzeugung – ganz christlich Samstag und Sonntag frei zu machen.

Die beiden Palästinenserinnen, die bei uns im Büro arbeiten machen Freitag und Samstag Wochenende. Zumindest Hadeel, denn Sonia kommt meistens auch am Freitag, aber nur halbtags. Christian, Ute und Jochen, die deutschstämmige Belegschaft also, macht teilweise Freitag und Samstag, manchmal aber auch Samstag und Sonntag Wochenende, je nach Lust und Laune und Arbeitspensum. Aber Freitags ist hier absolute tote Hose, nur wenige Geschäfte haben geöffnet und alles läuft auf halber Geschwindigkeit. Also halte ich es für sinnvoller, Freitags zu arbeiten und dafür das europäische Wochenende voll nutzen zu können. Und sich zwischendurch mal einen Tag frei zu nehmen und dafür am „Wochenende“ einen Tag zu arbeiten ist auch kein Problem.

Samstag Abend war ich mit Qussei, einem Medizinstudenten, den ich letzte Woche kennen gelernt habe, in einer urgemütlichen Kneipe in der Altstadt Bier trinken. Er ist extrem angepisst von dem Wahlausgang und überlegt ernsthaft, Palästina zu verlassen. „Wart mal ab!“ habe ich ihm gesagt, „mal gucken, was die neue Regierung überhaupt ändern kann und will und ob sie nicht vielleicht in ein paar Monaten scheitert und es Neuwahlen gibt…“


Ich glaube nämlich nicht, dass die Hamas jetzt so mir nichts dir nichts hier einen islamischen Gottesstaat aufmachen kann. Dazu sind die Palästinenser zu säkular und zu modern. Außerdem sind ja nur ein Bruchteil der Leute, die die Hamas gewählt haben waschechte Islamisten. Die Allermeisten sind Protestwaehler, haben sie nur gewählt, weil sie mit der korrupten Fatah-Regierung unzufrieden waren und weil die Hamas vor Allem den Armen eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation versprochen hat. Und Arme, und damit potentielle Wähler, gibt es reichlich:

60% der Palästinenser leben unterhalb der Armutsgrenze von 2 $ pro Kopf und Tag.


Qussei kommt aus Tulkarem, einer Stadt im Nordwesten der Westbank. Da er aber in Ramallah studiert, arbeitet und wohnt, hat er eine Ramallah-ID. Wenn er seine Familie besuchen will, muss er fünf israelische Checkpoints passieren. Wenn viel los ist oder die Soldaten schlecht gelaunt sind braucht er für die Strecke von 40 km manchmal einen ganzen Tag.


Nach Jerusalem kann er mit seiner ID nicht, er kriegt keine Genehmigung. Das heisst, dass er noch nie in seinem Leben in dieser Stadt war, die nur 15 km von Ramallah entfernt liegt und für die Palästinenser nicht nur die Hauptstadt ihres irgendwann-mal-zu-gründenden Staates, sondern auch ein mysthischer Ort (nach Mekka und Medina immerhin die dritt-heiligste Staette des Islam) ist.


Da offenbart sich am individuellen Beispiel ganz anschaulich, was militärische Besatzung im Alltag ueberhaupt bedeutet:

Eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Besatzungssoldaten, die einem im eigenen Land die Weiterfahrt verwehren können, wenn ihnen danach ist, sie brauchen ja nicht mal eine Begründung abgeben.

Eine beliebte Methode ist es auch, einfach die Autoschlüssel zu konfiszieren, die Insassen zu Fuß weiter zu schicken und das Auto entweder stehen zu lassen oder zu zerstören. Die Initiative „Breaking the Silence“, die von israelischen Soldaten, die in den besetzten Gebieten im Einsatz waren, ins Leben gerufen wurde, dokumentiert in einer Wanderausstellung den Alltag und die Erlebnisse von Soldaten in den besetzten Gebieten.

Unter anderem eben auch eine Wand mit unzähligen Schlüsselbunden…


Einen guten Artikel ueber die Initiative bietet die Sueddeutsche hier.

Gerichtlich gegen unrechtmäßige Behandlung oder Beschädigung ihres Eigentums vorgehen können Palästinenser nicht, da sie keine israelischen Staatsbürger sind und damit auch nicht das Recht haben, vor israelischen Gerichten zu klagen.

Und die Checkpoints sind überall im Westjordanland. Zwar gibt es die so genannten A-Gebiete, also Gebiete, in denen die Autonomiebehörde die volle Hoheit hat. Diese Gebiete umfassen die großen Städte Hebron, Bethlehem, Jericho, Ramallah, Nablus, Jenin, Salfit, Tubas und Tulkarem. Dies liegen wie Inseln umgeben von B- und C-Gebieten, in denen die Israelis volle Sicherheitshoheit haben.

Was zur Folge hat, dass sie jede Bewegung von einer Insel zur nächsten kontrollieren können. Sogar die palästinensische Polizei, Abgeordnete oder der Präsident selbst müssen an den Checkpoints anstehen, warten, sich kontrollieren lassen. Und wenn es gerade Essen gibt, sind die Checkpoints auch gerne mal für eine halbe Stunde komplett geschlossen. Zwischen der Westbank und dem Gazastreifen gibt es keine einzige Verbindung, ein Besuch bei Verwandten dort ist seit 1994, als die Transitstrecke geschlossen wurde, unmoeglich.

Ein Mitarbeiter des israelischen Verteidigungsministeriums hat heute angekuendigt, Israel werde den frisch gewaehlten Hamas-Parlamentariern aus dem Gazastreifen keine Genehmigung erteilen, in die Westbank und damit zum Parlamentssitz in Ramallah zu fahren. Soviel zum Thema Bewegungsfreiheit.


Zusätzlich zu den regulären, also den stationären Checkpoints gibt es noch die „flying Checkpoints“. Was das bedeutet, konnte ich neulich Abend erleben, als ich meinen Chef nach Jerusalem gefahren habe. Ein paar Kilometer nach dem stationären Checkpoint, der direkt am Ende einer Ausfallstraße aus Ramallah liegt (die Stadt ist eben auch eine „A-Gebiets-Insel“, die von Checkpoints umzingelt ist), auf halber Strecke nach Jerusalem war einer.

Ein „flying Checkpoint“ besteht einfach aus zwei Militärjeeps, die sich auf die Straße postieren, ein oder zwei orange Blinklichter aufstellen und dort für eine kurze Zeit bleiben und Nachkontrollen anstellen. Die Autos müssen sich in zwei Spuren aufstellen: grüne, also palästinensische auf die rechte Spur, die werden gefilzt und gelbe, also israelische Nummernschilder auf die linke Spur, die können langsam durchfahren.

Zum Glück ist unser Auto in Jerusalem gemeldet, hat also gelbe Nummerschilder. Dennoch ein komisches Gefühl, bevorzugt behandelt zu werden, nur wegen der Farbe des Nummernschildes…



Wer sich tiefergehend dafuer interessiert, wie das mit der Zerstueckelung der palaestinensischen Gebiete im Detail aussieht, wie die Mauer genau verlaeuft und wo ueberall stationaere Checkpoints sind, dem sei das Uebersichtsposter von ARIJ, einem unabhaengigem Institut aus Jerusalem, empfohlen.

Die Datei ist zwar 5,5 MB gross, es lohnt sich aber, auch fuer Modemnutzer...