Dienstag, Januar 10

Alltagsbeobachtungen

Ramallah, 8. Januar 2006

Heute war extrem ekliges Wetter: kalt, Nebel mit Sichtweiten um die 50 Meter, dazu Regen und leichter Wind. Dementsprechend war meine Lust bett und Haus zu verlassen minimal.

Im Büro habe ich die beiden palästinensischen Mitarbeiterinnen Sonia und Hadil kennen gelernt. Kurze Gespräche über mein Vorhaben, wieder einige Namen und Telefonnummern von Leuten, die mir weiterhelfen können bekommen.


Danach habe ich die Vorzüge neuster Informations- und Telekommunikationstechnologien genutzt und Emails gecheckt, Emails geschrieben, lange mit Sonja in Berlin telefoniert und anschließend noch mit ihr und Lilia gechattet.


Plötzlich waren von draußen Schüsse zu hören. Erst einzelne Schüsse, dann mehrere MG-Salven. Zwischendrin ein paar lautere, heftigere Explosionen. Ich bin auf den Balkon gegangen, konnte aber wegen dem dichten Nebel nichts sehen und auch nicht genau verorten, von wo die Schüsse kamen. Vom Klang her war es nah, aber nicht in direkter Nachbarschaft.


Was ich allerdings sehen konnte, war, dass die Leute unten auf der Straße seelenruhig weiter spaziert sind und sich nicht einmal umgesehen haben. Die Bewohner von Ramallah (ach Quatsch: alle Palästinenser) haben in den letzten 39 eben schon heftigere Feuergefechte mitbekommen, als dass sie sich wegen ein bisschen Kalaschnikow-Geballere beim Telefonieren, einkaufen oder bei sonst was stören lassen würden.


Was für mich ein beunruhigendes und bisher nicht da gewesenes Ereignis war, ist für die Menschen, die hier leben groß nichts besonderes. Aber warum auch? Die Menschen wollen und müssen ihren Alltag leben.


Überhaupt bin ich immer wieder verwundert und positiv überrascht, wie normal das leben hier ist. Sicherlich gibt es in Palästina Flüchtlingslager, in denen ganz sicher nicht eine so weltstädtische Atmosphäre herrscht. Aber in Ramallah gibt es so gut alles, was es sonst überall auch gibt: Designerboutiquen, Geldautomaten, Restaurants, Internetcafés…


Man sieht keine verschleierten Frauen, Kopftücher schon hin und wieder, die Leute haben die allerneuesten Handys, die aktuellsten Klamotten. Nur die Jugend ist nicht ganz so vom Konsum verdorben und auf Pseudo-Ghetto-Getue getrimmt wie ihre gleichaltrigen pan-arabischen Landsleute in Berlin.


Beim Einkaufen hatte ich unzähligen kleinen Läden Gelegenheit meinen Grundwortschatz Arabisch anzuwenden. Und ich hatte eine kurze Unterhaltung mit zwei Süßigkeitenverkäufern, die zwar englisch sprachen, aber nicht gerade helle waren, David Beckham für einen Deutschen und Ronaldinho für einen Franzosen hielten und unbedingt von mir wissen wollten, wen ich am Besten finde: Arafat, die Hamas oder Scharon.


Da ich mich bei solchen Grundsatzdiskussionen lieber raushalten, habe ich ihnen erklärt, dass ich hier nur zu Besuch und auch nicht wahlberechtigt bin und Günter Beckstein für mich der größte Politiker aller Zeiten ist.