Donnerstag, Januar 26

Wahltag

Rammalah, 26. Januar 2006

Gestern war er also, der grosse Tag. Al-Quds, eine der groessten Tageszeitungen in den palaestinensischen Gebieten, brachte es in einer grossen roten Headline auf den Punkt:
al-jaum, jaum dimukratiya filastinya - heute ist der Tag der palaestinensischen Demokratie.

Das erste Mal seit den Wahlen 1996 hatten knapp 2 Millionen Wahlberechtigte in der Westbank, im Gazastreifen und im von Israel annektierten Ost-Jerusalem die Moeglichkeit, ueber die Zusammensetzung ihres Parlamentes zu entscheiden. Trotz der bereits im letzten Beitrag beschriebenen Schwierigkeiten und Streitpunkte, was die Wahl der in Jerusalem lebenden Palaestinenser anbelangt - die Stimmabgabe dort fand per "Briefwahl" in Postaemtern statt - verlief die Wahl auch in Jerusalem ohne nennenswerte Behinderungen (abgesehen davon, dass Israel nur 6.300 der 120.000 in Jerusalem lebenden Palaestinensern gestattete zu waehlen).

Der einzige Vorfall ereignete sich am fruehen Morgen in der Naehe des Jaffa-Tores, als ein Knessetabgeordneter des rechten Spektrums mit einigen Anhaenger in ein Postamt stuermte und den dort wartenden Waehlern drohte, sie verloeren durch die Teilnahme an den Wahlen ihre Jerusalem-ID, welche ihnen einen besonderen Status zusichert.

Da rund zwei Drittel der Bevoelkerung unter 25 Jahren jung ist, war es fuer die meisten die erste Parlamentswahl . Daher gab es im Vorfeld breit angelegte Informationskampagnen, aber auch direkt in den Wahlbueros wurde auf grossen, auch fuer Analphabeten verstaendlichen bebilderten Plakaten darueber aufgeklaert, wie so eine Wahl funktioniert.


Man beachte: Waffen und Zigaretten verboten!

Eigentlich ist in den Wahlbueros alles verboten, was den Palaestinensern lieb und teuer ist.
Zigaretten, Mobil-Telefone, Waffen, politische Diskussionen, das Benutzen von Megaphonen und Lautsprecheranlagen.
Fehlt nur noch, dass sie Plastiktueten und Neonroehren verbieten...

Ich selbst war mit meinem Kollegen Jochen mit dem Auto in den Doerfern rings um Ramallah, Al-Bireh und Birzeit unterwegs. In keinem der 10 von uns besuchten Wahlbueros konnten wir Verstoesse gegen die Grundregeln einer freien, geheimen und fairen Wahl feststellen. Die Tatsache, dass trotz des offiziellen Verbotes in den Wahlbueros geraucht wurde, oder dass einige Waehler ihre Wahlzettel nicht zusammen gefalten, sondern offen fuer alle Anwesenden sichtbar zur Urne brachten, stellen ja nun wirklich keine Grundlegenden Verstoesse dar, zumindest beeinflussen sie die Entscheidung des einzelnen Waehlers nicht.

Auch die Wahlwerbung in unmittelbarer Naehe der Wahlstationen wurde nicht, wie eigentlich vorgeschrieben entfernt, aber das kaeme bei der Menge und Dichte, der seit Wochen das Strassenbild dominierenden Plakate einer Sisyphosarbeit gleich...

Vor jedem der Wahlbueros standen Vertreter der zwei grossen Parteien - zum einen die Anhaender der regierenden Fatah mit gelben Flaggen und mit schwarz-weissen Schals und zum anderen die Anhaenger der Hamas, die zum ersten Mal an einer Wahl teilnimmt, nachdem sie diese bisher immer boykottierte, komplett in gruen. Hin und wieder sah man auch Anhaenger der marxistisch orientierten Volksfront zur Befreiung Palaestinas (PFLP) mit roten Flaggen und rot-weissen Schals.
Alles in allem ein durchweg friedliches Miteinander, Volksfeststimmung und nicht zuletzt ein schulfreier Tag fuer die Kinder, da in ihren Schulen die Wahlbueros eingerichtet waren. Mit einer fuer uns verwunderlicher Selbstverstaendlichkeit wurden selbst Kleinkinder von ihren Eltern mit den Merchandise-Produkten der von ihnen praeferierten Partei ausgestatten.

Hier ein Bild von den beruehmt-beruechtigten und gefuerchteten, weil bis zu den Milchzaehnen bewaffneten Qassam-Junior-Brigaden:

Der Ablauf selbst verlief fuer palaestinensische Verhaeltnisse erstaunlich diszipliniert. Nachdem sich die registrierten Waehler identifiziert hatten, ging mussten sie den Zeigefinger der linken Hand in spezielle Tinte halten um so ein Mehrfachwaehlen auszuschliessen.
Mit den beiden Wahlzetteln - das System ist dem deutschen sehr aehnlich: es gibt eine Erststimme fuer die Direktkandidaten des Wahlkreises und eine Zweitstimme fuer die Landesweit antretenden Parteien und Listen.


Die Auszaehlung, die ich in einer Grundschule in Al-Bireh beobachtet habe, verlief auch gesittet und vorschriftsgemaess. Jeder der angetretenden Parteien hatte einen Beobachter vor Ort, was zur Folge hatte, dass sich alle gegenseitig kontrollierten und darauf aufpassten, dass beim Auszaehlen keine Stimme - im wahrsten Sinne des Wortes - unter den Tisch fiel.
Alle Stimmzettel wurden gezeigt und vorgelesen, jeder fuehrte seine eigene Strichliste und an der Tafel wurde von der Wahlkommision mitgezaehlt.


Die lange Reihe in der Mitte der Tafel ist die fuer die Hamas. Wie man unschwer erkennen kann ist sie mit Abstand die staerkste Fraktion.

In "meinem" Wahlbuero kam die Hamas auf 50%, Fatah auf 29% und die Maertyrer Abu Ali Mustafa - Liste auf 9%. Die restlichen Prozent gingen an Kleinstparteien.
Noch waehrend der Auszaehlung hoerte man draussen die Hupkonzerte und Sprechchoere der verschiedenen Gruppierungen, die alle (vorsichtshalber oder um Praesenz zu zeigen) feierten. Vereinzelt wurde auch in die Luft geschossen, aber daran habe ich mich mittlerweile schon vollstaendig gewohnt. Es ist einfach die Steigerung von Hupen...


Alles in allem zeigt sowohl der friedliche Ablauf, als auch die hohe Wahlbeteiligung, dass in Palaestina trotz der widrigen Umstaende einer militaerischen Besatzung und der Nicht-Existenz eines eigenen Staates, demokratische Strukturen und der Wille zur demokratischen Partizipation seitens der Bevoelkerung vorhanden sind.

Im Gegensatz zu anderen arabischen Staaten hatten die Waehler die Wahl zwischen 11 verschiedenen Parteien (es gibt selbsternannte Demokratieexporteure mit deutlich weniger Parteien), aus allen Bereichen des politischen Spektrums.
Und allein die Tatsache, dass die Wahlen stattfanden, obwohl die regiernde Fatah-Bewegung mit erheblichen Verlusten rechnen musste, beweisst die demokratische Grundstruktur, auch wenn weite Teile der Regierung und Verwaltung nach wie vor von Korruption, Vetternwirtschaft und Intranzparenz gepraegt sind.

1 Comments:

Anonymous Anonym said...

Interessanter Beitrag.

Das mit den Parteienvertretern im Wahllokal kennt man ja aus Deutschland nicht.
In Spanien gibt es das aber auch.

Viele Grüße aus dem verschneiten Freiburg,
Zeno

Donnerstag, Januar 26, 2006 5:41:00 PM  

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