Dienstag, Januar 10

Antisemitismus vs. Völkerverständigung

Ramallah, 9. Januar 2006



Das Übliche: Nach dem Frühstück mit dem Sammeltaxi nach Ramallah down town.

Keine 5 Sekunden, nachdem ich eingestiegen bin, pampt mich von hinten eine aggressive Stimme an und fragt auf arabisch, ob ich Jude sei. Ich drehe mich um und erkläre ihm:

„Nein, ich bin kein Israeli, ich komme aus Deutschland.“ Ob ich denn deutscher Jude sei, will der stiernackige Türsteher-Typ wissen. Da mein Arabisch leider nicht ausreicht, um ihm meine ganz persönliche pantheistisch-agnostische Spiritualität zu erklären, begnügte ich mich mit der knappen Antwort: „Nein, ich bin Christ.“


Religionen spielen in diesem Konflikt eine viel zu große Rolle, dafür, dass sie angeblich alle das selbe (nämlich Frieden) wollen, sich auf die selben Urväter (Abraham, Moses und Konsorten) berufen und lediglich von ihren jeweiligen selbsternannten Statthaltern auf Erden instrumentalisiert werden.


Überhaupt ist es mir schon ein paar mal passiert, dass mich Leute mit „Shalom!“ ansprechen. Irgendwie seltsam. Nicht dass ich persönlich ein Problem damit hätte, für einen Israeli gehalten zu werden, aber in der hiesigen Situation hat es doch einen leicht bedrohlichen Beigeschmack, so dass ich dieses Missverständnis immer gleich aus dem Weg räume.


Die Menschen hier kennen keine israelische Zivilisten. Die einzigen Israelis, die sie kennen, sind Soldaten, die sie an den Checkpoints kontrollieren und Siedler, die ihnen ihr Land stehlen.

Und ihre Wut auf diese ist verständlich. Der Begriff „Jude“ ist so was wie ein Synonym für Soldat. Die Kinder in Palästina spielen auch nicht Räuber und Gendarm, sondern Jude und Araber.

Die Kinder imitieren in diesem Spiel, was sie täglich erleben. Sie bilden zwei Gruppen. Die einen sind „die Juden“, die anderen „die Araber“. Die „Juden“ suchen sich Holzstücke. Das ist das Gewehr oder der Schlagstock. Sie sammeln auf der Straße liegen gebliebene Patronenhülsen und Gasgeschosse. Damit verfolgen sie die „Araber“. Sie greifen ihre Holzstöcke, zielen damit auf ihre Spielgefährten und schießen: „Toch, toch, toch!“. Andere nehmen sich eine Tüte, halten sie vor den Mund und rufen im nachgemachten Hebräischen Akzent: „Wir verkünden hiermit, dass soeben über das Lager Schati eine Ausgangssperre verhängt wurde!“. Dann laufen sie durch die Gassen, hämmern an die Türen von Leuten, auf deren Hauswänden PLO-Parolen stehen und schreien: „Macht die Sprüche weg! Los, fegt die Straße!“. Die „Araber“ werfen mit Steinen zurück. Kinder im Alter von 3 oder 4 Jahren bauen Straßensperren. Natürlich keine richtigen Straßensperren, aus großen Steinbrocken, Müllcontainern und brennenden Autoreifen, sondern aus kleinen Steinen, Murmeln und leeren Cola-Dosen. Die Passanten dürfen an dieser Sperre erst vorbei gehen, wenn sie die Hand zum Victory-Zeichen erhoben haben.

(aus: Ivesa Lübben/Käthe Jans: Kinder der Steine)


In ihrem Buch „Gaza – Tage und Nächte in einem besetzen Land“ erzählt Amira Hass, wie ein kleines Mädchen ihre Mutter fragt, ob denn die Juden auch als Babys auf die Welt kommen wie wir oder ob sie schon von Anfang an ein Gewehr über der Schulter hängen haben.


Und eine Arbeitskollegin hat mir die Geschichte von einem 4-jährigen Jungen erzählt, der, auf ihre Frage, was er denn später mal werden will voller Begeisterung antwortete: „Ich will Jude werden!“ Und auf die Nachfrage warum denn, erklärte er: „Juden haben Gewehre und dürfen Panzer fahren und dürfen Papa sagen, was er zu tun hat.“


Aber bei all dem gegenseitigen Misstrauen, Hass und schlichtem Unwissen ueber die andere Seite sollte man nicht vergessen, dass die ueberwaeltigende Mehrheit der Menschen hier einfach nur in Frieden mit Israel als Nachbar leben will. Aber wenn die Leute, die sie staendig schikanieren allesamt juedischen Glaubens sind, schlaegt sich das eben zwangslaefig in anti-juedischen Einstellungen nieder.

Denn zwischen "den Juden" und "der israelischen Besatzungsarmee" zu differenzieren ist zwar dringend noetig, aber nicht leicht. Und diese Differenzierung kriegen so nicht einmal akademisch gebildete deutsche Moechte-gern-Linke hin, wieso muss man es dann von einem palaestinensischem Arbeiter verlangen?

Kritik an der Besatzungspolitik? Unterschreibe ich sofort!

Verallgemeinerungen auf das gesamte Judentum? Nein, dagegen!


Ein sehr schoenes Beispiel fuer gelebte Voelkerverstaendigung hingegen ist der Mann auf diesem Bild, das ich heute in der idyllischen Fussgaengerzone von Ramallah gemacht habe:


Dieser werte Herr hat absolut kein Problem damit, ein Palaestinensertuch zu tragen und trotzdem vor israelischen Obstkartons gemütliche seine Narghile zu rauchen. Daran sollten sich so manche Sturköpfe in aller Welt mal ein Beispiel nehmen...


VöLKER DIESER WELT, RELAXT !!!


P.S.: Ich habe zahlreiche Antworten auf die Orientierungsfrage bekommen. Danke an alle, die mir geschrieben haben, es ist schön, so viele Mails aus der fernen Heimat zu lesen. Gewonnen hat nach dem jetzigen Stand der Dinge eindeutig Anna, die die beste, zutreffenste und plausibelste Definition mitsamt Link zur Quelle geschickt hat.