Donnerstag, Januar 26

Der Tag danach

Ramallah, 26. Januar 2006

Heute morgen nach einem "de-briefing" im deutschen Vertretungsbuero aenderte sich die Nachrichtenlage alle halbe Stunde. Erst hiess es, die Fatah habe einen kleinen Vorsprung, dann, die Hamas habe die Mehrheit und schliesslich, es gaebe einen Gleichstand.
Die Parteien bekraeftigten erst unisono ihre Mehrheit und damit ihren Regierungsanspruch, dann gab es erste Andeutungen einer grossen Koalition, wobei nach wie vor unklar war, wer die groesste Fraktion stellt.

Zwischenzeitlich meldete die israelische Tageszeitung Ha'aretz, die Hamas habe die absolute Mehrheit, also ueber 50% erreicht. Laut unbestaetigten Quellen und inoffiziellen Ergebnissen wie sie selbst einraeumten, gewann die Hamas alle Sitze in den Distrikten Hebron, Gaza Nord, Gaza Stadt und 4 der 5 Sitze im Bezirk Ramallah (ein Sitz ist fuer Christen reserviert). Die Distrikte Nablus, Jenin, Qalqiliyah, Tulkarem und Salfit sollen der Meldung zufolge eine Hamas- Mehrheit haben.

Gegen Mittag kuendigte dann der Premierminister Ahmed Kurei dann seinen Ruecktritt an.
Nicht unerwartet, aber doch ueberraschend frueh, wenn ma bedenkt, dass es noch immer kein vorlaefiges Endergebniss gibt, sondern alle Spekulationen auf Umfragen und Hochrechnungen beruhen.

Man munkelte aber bereits, die Hamas koennte bis zu 60% erreicht haben. Ein respektables Ergebniss fuer eine Partei, die zum ersten Mal bei Parlamentswahlen antritt.
Heute abend um 19 Uhr wird auf der Pressekonferenz der Wahlkommission ein erstes offizielles Zwischenergebniss verkuendet. Dann wird man sehen wie hoch die Hamas gewonnen hat.

Am Nachmittag wollte ich eigentlich nur schnell etwas essen gehen, geriet aber mitten in die zentrale "Siegesfeier" der Hamas-Anhaenger. Obwohl es nach wie vor keine genauen Angaben ueber Prozente und Sitzverteilungen gibt, wurde prophylaktisch schon mal kraeftig und vor Allem lautstark gefeiert. Nach Geschlechtern getrennt, versteht sich. Die Maenner auf der einen, Frauen und Kinder auf der anderen Seite des Platzes. Da ich die Kamera dabei hatte, kletterte ich auf einen Laster und hatte vom Dach aus eine praechtige Aussicht auf die Szenerie: Ein gruenes Flaggenmeer, begeisterte Massen und immer wieder Allahu akbar! - Sprechchoere.

Hier zuerst einmal - Ladies first! - ein paar Impressionen aus dem Frauenblock:






Wenn ich mir diese Frauen so angucke, dann wird mir schon etwas seltsam zumute. Es tragen naemlich bei Weitem nicht alle Frauen Kopftuecher. Und das, was man jetzt hier sieht, ist also die Anhaengerschaft der Hamas. Und wenn die als alleinige und durch ihren haushohen Sieg selbstbewusste und euphorische Partei die Regierung stellt, dann wird sich einiges aendern.

Dann ist Schluss mit diesem freizuegigem, weltlichen, lasterhaftem Lotterleben! Also schnell noch ein paar Biervorraete anlegen, denn ab naechster Woche haben wir hier einen islamischen Gottesstaat nach iranischem Vorbild...

Im Maennerblock ging es deutlich lebhafter und rauher zu, die Stimmung war aber auch hier ausgelassen und ueberschwaenglich euphorisch:




Zurueck im Buero. Erst einmal schauen, ob, und wenn ja, was es Neues gibt. Die Nachrichtenlage ist durchweg negativ. Von "worst case Szenario" ist die Rede, das Ergebnis sei "schlimmer als wir befuerchtet hatten" und werde "die gesamte Region ins Chaos stuerzen".
Und der Spiegel bringt es auf den Punkt, was die internationale Gemeinschaft befuerchtet:
"Die Angst vor Hamastan geht um". Alles in allem: "Ein schwarzer Tag fuer den Nahen Osten".

Klar, das alle Prognosen uebertreffende Abschneiden der Hamas (obwohl noch gar nichts feststeht) hat viele ueberrascht, am Meisten wahrscheinlich die Hamas selbst. Sie hatten auf eine Regierungsbeteiligung gehofft und jetzt muessen sie ploetzlich alleine den gesamte Laden schmeissen. Als Oppositionspartei zur Fatah war es einfach, Missstaende zu kritisieren und sich als Hardliner zu praesentieren, doch jetzt sieht es ganz danach aus, als haette die Hamas ihren Marsch durch die Institutuionen (der eher ein 100 Meter Sprint durch die Institutionen war) geschafft und ist nun eine Staatstragende Partei. Ob sie das schafft, bleibt abzuwarten, allerdings kann ich mir schlecht einen Hamas-Premier zu Besuch im Weissen Haus vorstellen.

Der Westen, also Europa, die USA und natuerlich auch Israel sehen die Hamas jedoch immer ausschliesslich als terroristische Vereinigung und das ist etwas zu kurz gegriffen.

Die Hamas ist eine breite politische Bewegung; sie betreibt Kindergaerten und Schulen, bietet kostenlose Arztpraxen an und verteilt Lebensmittel an beduerftige Familien. Damit erkaufen sich die Islamisten den Rueckhalt in der Bevoelkerung. Und dann gibt es eben noch den bewaffneten Arm der Hamas, die Qassam-Brigaden. Die sind in der Tat eine bewaffnete Gruppe, verueben Selbstmordattentate, greifen Armee-Stuetzpunkte an und beschiessen Israel regelmaessig mit ihren selbstgebauten Qassam-Raketen.

Aber ich meinee, man sollte sie einfach mal machen lassen. Wie sich in einer demokratischen Wahl gezeigt hat, war der Wunsch nach einem politischen Wechsel da und jetzt sollen sie mal zeigen, ob sie es besser koennen als die korrupte Fatah-Fuehrung. Wirkliche politische inhalte haben sie anscheinend nicht, im Wahlkampf hiess es zu jedem Thema:

DER ISLAM IST DIE LOESUNG!

Als Regierungspartei koennte die Hamas ihre bisherige kaempferische Rhetorik zugunsten einer kompromissbereiteren, diplomatischeren Politik eintauschen. Und dass sie mit Israel verhandeln muessen, ist sogar den radikalsten Kraeften innerhalb der Hamas klar, denke ich. Denn wenn sie von ihren Ministerien aus zum bewaffnetem Kampf und zur Zerstoerung Israels aufrufen, dann haben sie schneller eine Rakete im Buerofenster haengen als sie "bismillah al rahman al-rahim" in ihren Rauschebart murmeln koennen.

Allerdings besteht natuerlich auch die Gefahr, das israel jegliche Verhandlungen mit einer Hams gefuehrten regierung ablehnt und der Wahlsieg zu einem Drift hin zu radikalen Kraeften bei den israelischen Parlamentswahlen Ende Maerz fuehrt. Und wie es dann um die Aussichten auf ein en "Friedensprozess", den man ohnehin schon seit Jahren nicht mehr als einen solchen bezeichnen kann, steht, bleibt abzuwarten. Es koennte aber - und auch dass hoert man schon seit laengerem - zu einer dritten Intifada kommen. Mit Hardlinern auf beiden Seiten wuerde es dann richtig duester aussehen...

Die ganze Zeit, waehrend ich hier tippe, waren draussen Schuesse zu hoeren. Zwischendurch Sirenen und Maschinengewehrsalven. Ich konnte aber nicht genau einordnen, von wo.
Im internet dann die Meldungen, Hamas-Aktivisten haetten das Parlament gestuermt, ihre Flagge auf dem Gebaeude gehisst und es sein zu Ausschreitungen zwischen Hamas- und Fatah-Unterstuetzern gekommen.

Und tatsaechlich, die Schuesse kommen aus Richtung des Parlaments, man hoert wildes Gehupe und aufgebrachtes Geschrei. Aber auch im Stadtzentrum fallen Schuesse.

Ich stehe auf dem Balkon, wo es, im 5. Stock und in einer abseitsgelegenen Seitenstrasse gelegen, sicher ist und denke mir: Ach du Scheisse!

Jetzt drehe sie also voellig durch! Mal gucken, ob ich nach Hause fahre oder hier bleibe, mein Heimweg naehmlich an der Muqata'a, dem Amtssitz des Praesidenten vorbei. Im Notfall schlafe ich im Buero...