Mittwoch, März 8

Tour durch Hebron

Ramallah, 8. März 2006


Vorgestern habe ich an einer von breaking the silence organisierten Tour durch Hebron teilgenommen. Breaking the silence ist eine Organisation von ehemaligen Soldaten, die das gesellschaftliche Schweigen brechen und über ihre Erlebnisse während dem Dienst in den besetzten Gebieten berichten. Beispielsweise darüber, wie sie mit Mörsergranaten auf gut Glück in dicht bebaute Wohngebiete geschossen haben, mit ihren Panzern über geparkte Autos fuhren und Nacht für Nacht auf die Wassertanks auf den Dächern schossen „um den Palästinensern Angst einzujagen“.


Die Initiative ist seit ihrer Gründung enormen Anfeindungen ausgesetzt, sie werden als Vaterlandsverräter, Nestbeschmutzer und Araber-Freunde beschimpft. Dennoch setzten sie ihre Arbeit fort; nicht nur, um die menschenverachtende Natur der Besatzung aufzudecken, sondern auch, um das kollektive Trauma, an welchem viele Israelis in Folge des Militärdienstes leiden zu überwinden.


Hebron gilt als Epizentrum des Nahostkonfliktes, nirgendwo sonst leben Siedler und Araber so dicht aufeinander, nirgendwo sonst ist die Anspannung und der Hass beider Seiten so unmittelbar zu spüren.

Die Stadt ist seit 1996 in zwei Zonen geteilt:

  • In H1, dem Teil, der unter palästinensischer Verwaltung steht, wohnen 120.000 Palästinenser.
  • In H2, dem Teil der unter israelischer Verwaltung steht, wohnen 30.000 Palästinenser und ca. 450 Siedler.


Um die derzeitige Situation besser zu verstehen, gibt es hier erst einmal einen kurzen historischen Überblick:

Hebron (hebräisch: Chevron, arabisch: Al-Khalil - beides bedeutet "Freund") ist eine der ältesten Städte der Region. Sie liegt ca. 20 Kilometer südlich von Jerusalem. Der Überlieferung nach soll Abraham, den sowohl Araber als auch Juden als ihren Stammvater ansehen, hier begraben sein. Über seinem Grab steht sowohl eine Moschee als auch eine Synagoge. Schon immer gab es in Hebron eine kleine jüdische Gemeinde.


1929 kam es zu Progromen gegen die ca. 30 jüdischen Familien der Stadt, nachdem sich das absurde Gerücht verbreitet hatte, Juden in Jerusalem hätten tausende von Moslems getötet. Über 67 Juden starben bei diesen Ausschreitungen, die Überlebenden wurden von der britischen Mandatsmacht nach Jerusalem umgesiedelt.


1936 lud der Bürgermeister von Hebron die jüdischen Familien ein zurück nach Hebron zu kommen – was diese verständlicherweise ablehnten.


1968 (also kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg, in welchem das Westjordanland besetzt wurde) mietete sich eine kleine Gruppe von 33 orthodoxen Juden unter Leitung des schweizer Rabbis Mosche Levinger im Park Hotel in der Altstadt ein. Erst hiess es, sie blieben nur über das Pessach-Fest, doch nach dem Fest verkündeten sie, sie werden „bis zur Rückkehr des Messias“ in Hebron bleiben.


1970 wurde die erneute jüdische Präsenz in Hebron nach anfänglichen Vorbehalten seitens der israelischen Regierung gebilligt und legalisiert.


Zwischen 1970 und 1972 errichteten die Siedler die bis heute bestehende Siedlung Qiryat Arba, angeblich um die historische jüdische Präsenz in Hebron wiederherzustellen.


1979 besetzte eine Gruppe von Siedlerinnen um Miriam Levinger (die Frau des Rabbi Levingers) das ehemalige jüdische Krankenhaus der Stadt.


1980 entschied der oberste Gerichtshof Israels, dass die Siedlung in Hebron illegal sei und geräumt werden müsse. Rabbi Levinger erschoss einen palästinensischen Ladenbesitzer als er durch Luftschüsse arabische Jugendliche vertreiben wollte. Kurze Zeit später wurden in Hebron sechs Siedler von einem Palästinenser erschossen. Als Reaktion darauf wurden in den folgenden sechs Jahren vier weitere Siedlungen in der Stadt gegründet.


1994 Am 25. Februar 1994 verübte der US-amerikanische Arzt Dr. Baruch Goldstein ein Massaker in der Ibrahim-Moschee. Während des Freitagsgebets im Fastenmonat Rammadan war die Moschee stark besucht. Goldstein schoss mit seinem Galil Sturmgewehr drei Magazine in die betende Menge und warf mehrere Handgranaten ins Innere der Moschee. 29 Palästinenser starben, über 120 wurden verletzt. Goldstein selbst wurde überwältigt und gelyncht. Sein Grab ist heute ein Wallfahrtsort für radikale Siedler. Die Inschrift auf seinem Grabstein lobt ihn als Märtyrer für den jüdischen Anspruch auf Hebron.

Bei den landesweiten Unruhen nach dem Massaker kamen 30 weitere Palästinenser zu Tode.
Das geistliche Oberhaupt der Siedlerbewegung in Hebron, Rabbi Levinger, sagte nach dem Goldstein-Massaker:

"Das Töten von Fremden ist akzeptabel und auch willkommen,
um die jüdische Renaissance im versprochenen Land zu fördern."


1996 wurde die Stadt zweigeteilt. H1 (unter palästinensischer Verwaltung) macht ungefähr 80% der Stadt aus. Dort leben 120.000 Palästinenser. In H2 (unter israelischer Verwaltung) leben 30.000 Palästinenser und ca. 450 Siedler, die meisten von ihnen Kinder. 1200 Soldaten sind in H2 stationiert, um die Siedler zu schützen. Laut geltender Rechtslage haben Soldaten der IDF keine Handhabe gegen israelische Staatsbürger vorzugehen. Selbst wenn militante Siedler Palästinenser angreifen oder – was auch bereits vorgekommen ist – wild um sich schiessen, kann das Militär nicht gegen sie vorgehen. Ihre einzige Aufgabe ist es, die Siedler zu schützen - nicht jedoch andere Menschen vor den Siedlern zu beschützen.


Ende 1996 veröffentlichten 25 Nachkommen der jüdischen Familien aus Hebron einen offenen Brief in der Ha’aretz, in dem sie um des Friedens Willen ein Ende der Siedlungen fordern:


We, the descendents of the families of Hebron’s ancient Jewish community, sons, grandsons and greatgrandsons of the Jews who lived in the city for hundreds of years - want peace.

PEACE FOR THE CITY, PEACE FOR ISRAEL

Now, when the city of our fathers and forefathers is in the eye of a storm threatening to explode the political process and to destroy the prospects of peace, we feel an obligation to say what is in our hearts.

Settlers living in Hebron’s heart do not have the right to speak in the name of the old Jewish community, and their pretensions to be following the path of our fathers is a deceit and deceiving. They are alien to the culture and way of life of the Hebron Jews, who in the course of generations created a heritage of peace between peoples and understanding between faiths.

The settlers who have taken possession of Jewish property in the heart of Hebron and made it theirs, have done thievish work. No one granted them the right that is not theirs, to be the heirs of our fathers, no matter if we speak of private property or community property. And they intend to add sins to their crimes and to possess other lands and structures.

HEBRON WILL DECIDE FOR GOOD OR EVIL

Therefore the government must evacuate the handful of settlers from the city at once, before they succeed in exploding the peace process and destroying the prospects of peace.



Seitdem kommt es in Hebron immer wieder zu Zusammenstößen zwischen jüdischen Siedlern und Palästinensern. Palästinensische Scharfschützen schrecken nicht davor zurück, auch Kleinkinder zu erschießen; die Siedler wiederrum hetzen ihre Kinder auf, um Palästinenser zu attackieren - wohlwissend, dass die Polizei gegen Minderjährige keine Handhabe hat.



Soweit die Geschichte...

Wir fuhren von Jerusalem aus mit einem Bus in den israelisch kontrollierten Teil der Stadt. Doch schon beim Eingang in eine der jüdischen Vorort-Siedlungen begannen die ersten Probleme. An den Einfahrten sind Siedler stationiert, die den Zugang zu ihrer Siedlung kontrollieren. Und die weigerten sich beharrlich, unsere Gruppe hinein zu lassen. Die Organisatoren riefen die israelische Polizei, die dann durchsetzte, dass wir die Siedlung betreten dürfen.


Yehuda, einer der Mitbegründer, führte und dann ausgehend vom Grab des Patriarchen quer durch H2 und erzählte von seiner Zeit als Soldat in der Stadt. In den Jahren 2001 und 2002 gab es insgesamt 500 Tage Ausgangssperre in H2. Allerdings nur für die arabischen Bewohner. Er erzählte, dass es während der Intifada zu den Aufgaben der Soldaten gehörte rund um die Uhr Häuser zu stürmen und zu durchsuchen. Nicht auf Grundlage von Geheimdienstinformationen, sondern nur um Präsenz zu zeigen...


Die Hauptstrasse, einst blühendes Geschäftszentrum der Stadt, ist heute menschenleer.


Die Straße wurde 1994 komplett dicht gemacht, alle Bewohner mussten ihre Häuser verlassen. Während der Al-Aqsa-Intifada hat das Militär über 2.000 Geschäfte in Hebron geschlossen. Die Türen wurden versiegelt und zugeschweisst, um sicher zu stellen, dass sie nicht wieder eröffnet werden. Allein in der Gegend um das jüdische Krankenhaus wurden 120 Geschäfte vom Militär geschlossen. "Aus Sicherheitsgründen" versteht sich.


Als es einigen Ladenbesitzern gelang, dagegen vor israelischen Gerichten zu klagen (das ist einer der wenigen Vorteile für Palästinenser, die unter israelischer Verwaltung leben – sie können klagen) machte sich das Militär nicht einmal die Mühe, die Schliessung zu verteidigen oder zu begründen, sie wussten genau, dass dies ausichtslos wäre, da die Schliessungen willkürlich als Akt der kollektiven Bestrafung gegen die Bewohner durchgeführt wurde. 111 der 120 Geschäfte erhielten von dem Gericht die Erlaubnis wieder zu öffnen.


Wegen der Massnahmen des Militärs und den ständigen Anfeindungen durch die Siedler haben seit 1996 43 % der in H2 lebenden Palästinenser den Stadtteil verlassen und sind nach H1 gezogen. Die Stadt ist gespenstisch leer, nur Soldaten und hin und wieder ein Siedler sind zu sehen.

Während dem gesamten Rundgang begleiteten uns Soldaten und Polizisten. Ob zu unserer eigenen Sicherheit oder um uns zu kontrollieren wurde nicht so ganz klar...


Der Gemüsemarkt von Hebron wurde vor einigen Jahren komplett geschlossen, die Geschäfte teilweise niedergerissen. Dort befindet sich jetzt ein Parkplatz für die Autos der Siedler. Die Übergänge zu H1 sind durch Betonsegmente und Stacheldraht versperrt.

Es gibt einige wenige Checkpoints, die man allerdings nur zu Fuss überqueren kann. Palästinenser, die in H2 leben, dürfen nicht mit dem Auto in ihren Stadtteil. Besuch können sie nur von Verwandten ersten Grades bekommen, die sich vorher beim Militär um eine Permission bemühen und dann vom Gastgeber an den Checkpoints identifiziert und abgeholt werden müssen.

Zwei Anwohner auf dem Weg zu ihrem Haus


Die Strassen in unmittelbarer Nähe der Siedlung Qiryat Arba sind für Araber verboten. Anwohner gelangen nur über die Grundstücke ihrer Nachbarn zu ihren Häusern. Die Siedlung Qiryat Arba selbst besteht aus einer Hand voll Wohncontainern, die auf Stelzen über einer Ausgrabungsstelle stehen.

Die Wohnhäuser, die direkt darunter liegen, werden von den Siedlern regelmässig mit Steinen, Flaschen und Müll beworfen.


Siedler haben wir nur sehr wenige zu Gesicht bekommen, was vielleicht auch besser ist. Yehuda erzählte, dass die Gruppen, die er durch die Stadt führt, um ihnen den ganzen Wahnsinn, der hier betrieben wird zu zeigen, schon mehrfach angegriffen wurden.


Ein Siedler wird von einem Miliär-Jeep durch die menschenleere Shuada Street eskortiert


Beim Verlassen der Stadt musste unser Bus kurz warten, um Krankenwagen, Polizei und Militär durchzulassen. Von einem Polizisten erfuhren wir, dass auf der Straße zwischen Jerusalem und Hebron ein Siedlerauto beschossen wurde und es zwei Verletzte gäbe. Alltag in Hebron. Und einen Ausweg aus dem Kreislauf der Gewalt ist nicht in Sicht...



Links:

Artikel im Spiegel

Artikel in einem jüdischen Web-Portal

„An Introduction to Hebron“

Website der Siedler in Hebron

Tel Rumeida Project