Montag, Februar 20

Der Wahlsieg der Hamas kommt der israelischen Politik sehr gelegen

Ramallah, 18. Februar 2006


Heute trifft sich das nach den Wahlen vom 25. Januar neu gewählte palästinensische Parlament zur konstituierenden Sitzung in Ramallah. Die neue Regierung wird jedoch weder von Israel, noch von der internationalen Gemeinschaft akzeptiert.


Die Hamas-Liste „Veränderung & Reformen“ ist aus den Parlamentswahlen als klare Siegerin hervorgegangen, sie stellt 74 der insgesamt 132 Abgeordneten. Zusammen mit den 4 parteilosen Kandidaten, die sich auf die Seite der Hamas geschlagen haben, können sie sich also auf eine solide absolute Mehrheit verlassen.

Doch schon bei einer an sich so selbstverständlichen Angelegenheit wie einer Parlamentssitzung zeigt sich das ungleiche Kräfteverhältnis im israelisch-palästinensischem Konflikt:

Die 30 Abgeordneten aus Gaza, unter ihnen der Spitzenkandidat der Hamas, Dr. Mahmoud Al-Zahar und der Vertreter der gemäßigten Kräfte der Hamas, Ismael Hanija, der aller Voraussicht nach das Amt des Ministerpräsidenten bekleiden wird, werden an der Sitzung nicht teilnehmen können. Sie werden, wie in den letzten Jahren schon des Öfteren geschehen, per Videokonferenz zugeschaltet werden.

Der Grund dafür? Die israelischen Behörden, die jeglichen Kontakt mit der neuen palästinensischen Regierung ablehnen, verweigern den Parlamentariern aus Gaza die Transit-Genehmigungen, die sie benötigen, um in die West Bank zu reisen. Der Gazastreifen ist und bleibt ein Freiluftgefängnis mit Meerblick.

Und in der Tat kommt der Wahlsieg der Hamas (gerne mit dem Adjektiv „radikal-islamisch“ versehen) der schon seit Jahren praktizierten israelischen Politik der unilateralen Entscheidungen in vielerlei Hinsicht gelegen, da nun keinerlei Rücksicht auf die palästinensische Seite mehr genommen werden muss. Statt dessen kann Israel nun völlig ungehindert seine militärische und ökonomische Überlegenheit nutzen, um weitreichende Entscheidungen in seinem Sinn zu treffen, anstatt lästige Verhandlungen mit der palästinensischen Seite zu führen.


Systematische Diskreditierung

Während den letzten Jahren der Amtszeit Arafats wurden Verhandlungen kategorisch abgelehnt, da Arafat „kein Partner für den Frieden“ sei. Sharon hingegen wurde von Bush junior zum „Mann des Friedens“ geadelt. Nach dem lang ersehnten Tod Arafats am 11. November 2004 wurde Abu Mazen (Mahmoud Abbas) erstaunlich reibungslos nach nur zwei Monaten zu dessen Nachfolger gewählt. Israel hoffte auf einen willigen (weil gemäßigten) Verhandlungspartner, der das Diktat der Forderungen ohne eigene Bedingungen zu stellen akzeptiert.

Als ziemlich bald klar wurde, dass dies nicht der Fall sein würde, begann Israel auch Abbas zu diskreditieren, ihn und seine Regierung in den inner-palästinensischen Machtkämpfen zu schwächen und ihm anschließend vorzuwerfen, er würde nicht entschieden genug gegen die bewaffneten palästinensischen Gruppen vorgehen.

Und Israel begann, statt sich an verhandelte, beidseitig akzeptierte Kompromisse (wie das Oslo-Abkommen oder die road map des Nahost-Quartetts) zu halten einseitige, unilaterale Entscheidungen zu treffen. Die Umwandlung der Besatzung des Gazastreifens in eine Belagerung des selbigen war ein erster solcher Schritt.

Einziges Problem bei der systematischen Ignorierung der Gegenseite: die palästinensische Regierung war demokratisch legitimiert, hatte einen starken Rückhalt in der Bevölkerung und konnte hin und wieder sogar auf internationale Unterstützung zählen.

Mit dem Wahlergebnis vom 25. Januar hat sich auch dies grundlegend geändert. Westliche Politiker werden seither nicht müde, die Palästinenser für ihre Wahlentscheidung zu tadeln. Wir geben euch Demokratie und ihr wählt die falsche Partei! Und wegen der zwar demokratischen, aber leider nicht im Sinne des Westens ausgefallenen Entscheidung der palästinensischen Bevölkerung wird nun über eine Einstellung sämtlicher Finanzhilfen, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und diplomatischen Beziehung geliebäugelt.

Endlich hat Israel einen Verhandlungspartner, der keiner ist; eine palästinensische Führung, die auch international nicht auf Rückendeckung und Unterstützung hoffen kann. Regierungen, die auch nur mit Hamas-Politikern reden, ziehen den offenen Hass Israels auf sich, wie jüngst mit Russland und der Türkei geschehen. Ein Dialog mit (und damit eine Stärkung der) moderaten und pragmatischen Strömungen innerhalb der Hamas, ein Einbinden (und damit die Möglichkeit der Einflussnahme auf) der radikalen Kräfte ist offensichtlich nicht erwünscht.



Es muss aber auch Grenzen geben!

Statt dessen wird von der neuen Regierung gefordert, sie solle gefälligst Israel anerkennen. Schön und gut, aber erkennt Israel eigentlich einen Staat Palästina an? Und welches Israel soll die Hamas-Regierung denn anerkennen? Das Israel, das von den Vereinten Nationen 1947 vorgesehen war? Das Israel, das aus dem Gründungskrieg 1948 hervorging? Das Israel, das nach dem 6-Tage-Krieg 1967 entstand und neben dem Westjordanland und dem Gazastreifen auch die Golanhöhen, Südlibanon und die Sinaii-Halbinsel umfasste? Oder das Israel, das momentan durch den Bau der Mauer (im wahrsten Sinne des Wortes) festzementiert wird und 10% der West Bank, darunter die fruchtbarsten Gegenden und zahlreiche Quellen dem israelischen Kernland einverleibt?



"If I was an Arab leader I would never make [peace] with Israel. That is natural: we have taken their country."

(Der erste israelische Premierminister David Ben Gurion)


Die Existenz eines Staates anzuerkennen, der sich selbst beharrlich weigert seine eigenen Grenzen klar zu definieren und diese dann auch zu respektieren wäre kein Friedensangebot, sondern eine bedingungslose Kapitulation gegenüber einer übermächtigen Kolonialmacht mit imperialistischen Ambitionen.

Khalid Meschaal, Chef des Hamas Politbüros in Damaskus, hat in der Frage der Anerkennung Israels die Forderungen der Hamas klar formuliert. Der russischen Zeitung "Nesavisimaja Gaseta" sagte er: "Wenn Israel unsere Rechte anerkennt und sich verpflichtet, aus allen besetzten Territorien abzurücken, wird die Hamas und mit ihr das palästinensische Volk beschließen, dem bewaffneten Widerstand ein Ende zu setzen."

Also kein kategorisches Ablehnen des Existenzrechts Israels, sondern eine für die Hamas bisher ungewöhnliche Kompromissbereitschaft. Ein Abrücken der bisherigen Maximalforderung des Anspruches auf das gesamte historische Palästina, sondern ein Friedensangebot im Zuge einer Zwei-Staaten-Lösung.



Klammheimliche Annektion

Das Thema der umstrittenen Grenzziehung erhält durch das Wahlsieg der Hamas und der kategorischen Ignorierung der neuen Regierung neue Brisanz, wie ein in der internationalen Öffentlichkeit kaum wahrgenommenes Ereignis letzte Woche gezeigt hat:

Am 9. Februar nutze der derzeit amtierenden israelische Ministerpräsident Ehud Olmert einen Besuch im Jordantal, um eine in seinen Worten „historische Entscheidung“ publik zu machen. Er erklärte, das Jordantal sei nunmehr kein besetztes, sondern annektiertes Gebiet und werde „ungeachtet jeder Friedensregelung mit den Palästinensern“ dem Staat Israel angegliedert, um die östliche Grenze Israels zu sichern.

Es werde eine Trennung von den Gebieten mit mehrheitlich palästinensischer Bevölkerung geben und Israels Staatsgrenzen würden endgültig festgelegt werden. Geplant war die Abtrennung des Jordantals schon seit langem, durchgesetzt wurde sie jetzt, da die Welt auf die Hamas schaut.

Durch die Annektion wird rund ein Drittel des Westjordanlandes vom Rest der Westbank abgeschnitten und ein lebensfähiger palästinensischer Staat wird ein für alle mal ein Ding der Unmöglichkeit.


Das Jordantal ist 15 Kilometer breit und verläuft über eine Länge von 120 Kilometern in Nord-Süd-Richtung parallel zum Jordan. In dem Areal leben rund 47.000 Palästinenser in 20 Gemeinden und rund 6.300 jüdische Siedler in 30 illegalen Siedlungen.
Auf der Karte ist das Jordantal in hellem gelb eingezeichnet. Jericho liegt als Insel mitten in israelisch kontrolliertem Gebiet. Auch erkennt man sehr gut, dass durch die Annektion eine Verbindung zum ebenfalls annektierten Ost-Jerusalem hergestellt wird und die verbleibenden palästinensischen Gebiete in seperate Kantone unterteilt werden.




Due to security measures…

Kurz nach dieser Ankündigung Olmerts traf die israelische Armee die nötigen Maßnahmen:


-
Vier zusätzliche stationäre Checkpoints kontrollieren den Zugang ins Jordantal, 2 Millionen Palästinenser bleibt damit der Zugang in das Gebiet verwehrt.

-
Zutritt erhalten nur Personen, die im Jordantal leben und die 5000 Palästinenser, in den israelischen Siedlungen im Jordantal arbeiten. (Billige Arbeitskräfte braucht man nun mal um eine Apartheid aufrecht zu erhalten…) Keinen Zugang erhalten jedoch Palästinenser, die landwirtschaftlich genutzte Flächen in der Region besitzen oder einfach nur Verwandte besuchen möchten.

-
Die Straßen im Jordantal dürfen nur noch von israelischen Autos befahren werden.


Zusätzlich wurden seit letzter Woche regelmäßig nächtliche Razzien durchgeführt, bei der die israelische Armee aufgegriffene Personen, die nicht in der Region gemeldet waren, einsammelte und außerhalb des Jordantals aussetzte. Nicht ohne vorher ihre Ausweispapiere zu konfiszieren, um eine erneute „Einreise“ zu verhindern. In Fachkreisen des Völkerrechts nennt man eine solche Maßnahme „ethnische Säuberung“.

Dass es bei der Annektierung nicht, wie behauptet, um Sicherheit, sondern um Zugang zu Wasser geht, liegt auf der Hand und ist der unausgesprochene eigentliche Grund der Annektion. Immerhin ist Jericho, welches mitten im Jordantal liegt, die mit abstand friedlichste Stadt der besetzten Gebiete, selbst während der Intifada gab es hier keine nennenswerten Zusammenstöße. Zudem besteht seit 1994 ein Friedensvertrag mit dem östlichen Nachbarn Jordanien.

Doch der Jordan und das Tote Meer, in welches dieser mündet, sind neben den bereits 1981 annektierten Golanhöhen die wichtigsten Wasserreservoirs der Region. Wenn man durch das Jordantal fährt und die unzähligen Entsalzungsanlagen und künstlich bewässerten Plantagen und Gewächshäuser sieht, wird dieser Sachverhalt mehr als deutlich.


Dass der Zugang zum Wasser und den fruchtbaren Böden der eigentliche Grund der Annektion sind, zeigt sich zudem in der Tatsache, dass das israelische Landwirtschaftsministerium (!) angekündigt hat, die Zahl der momentan 6300 Siedler in der dünn besiedelten Region noch innerhalb dieses Jahres zu verdoppeln.

Seit wann ist das Landwirtschaftsministerium für Siedlungspolitik zuständig? Und war da nicht so etwas wie die road map, die jeglichen Siedlungsbau untersagte? Aber wie so oft fühlt sich Israel an bereits getroffene Vereinbarungen nicht gebunden und setzt seine Politik der einseitigen Maßnahmen weiter fort.

Internationaler Protest gegen dieses völkerrechtswidriges Vorgehen regt sich jedoch keiner. Zwar lässt Condoleeza Rice verkünden, Israel solle doch bitte getroffene Abkommen respektieren und von einseitigen Grenzziehungen absehen, doch stößt dies auf israelischer Seite auf wenig bis gar kein Gehör.

Den Verantwortlichen in der israelischen Regierung ist anscheinend bewusst, dass es sich hierbei um ein wenig Alibi-Protest handelt, denn wenn die USA wirklich etwas gegen die Annektion einzuwenden hätten, gäbe es Mittel und Wege, Israel davon abzuhalten. Eine Reduzierung der jährlich 3 Milliarden US $ „Entwicklungshilfe“ oder das Verweigern des amerikanischen Vetos im UN Sicherheitsrat beispielsweise.

Der Protest der palästinensischen Autonomiebehörde wird auf internationaler Ebene gar nicht vernommen, auch der EU-Beauftragte für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, nahm nach seinem Treffen mit dem amtierenden palästinensischen Premierminister Qurei am Donnerstag in Ramallah keinerlei Stellungnahme zu der Annektion palästinensischen Gebietes.


Schließlich, so scheint die einhellige Meinung zu sein, handelt es sich bei den Palästinensern um einen Haufen Terrorgruppen-an-die-Macht-wählenden Arabern, die gefälligst mit dem Widerstand gegen die Besatzung aufhören und sich statt dessen mit den gegebenen Kräfteverhältnissen abfinden sollen und sich einen eigenen Staat und einen gerechten, beide Seiten zufrieden stellenden Frieden ein für alle mal an den Hut, bzw. an die Keffayeh stecken können.


Links:

Artikel in der Jerusalem Post und in der Ha'aretz

Berichte von imemc.org und der israelischen NGO B´tselem