Freitag, Januar 6

Abreise - Reise - Ankunft

Ramallah, 5. Januar 2006



Nach einer kurzen und vor allem schlaflosen Nacht habe ich mich heute morgen um kurz nach 4 von Sonja verabschiedet und bin los zur U-Bahn. In Tegel dann das übliche: einchecken, warten, Sicherheitsschleuse, warten…


Auf dem Flug nach Mailand bot sich nicht nur ein gigantischer Sonnenaufgang, sondern auch ein Panoramablick auf die zerklüfteten, schneebedeckten und von Wattewolken umhüllten Alpen. Und ganz weit im Westen sah man – wie aus der Tobleronewerbung geklaut – den
pyramidenförmigen Gipfel des Montblanc.


In Mailand dann Sicherheitsschleuse, warten, warten und noch ein bisschen warten. Ich mag diese Atmosphäre auf Flughäfen. Menschen aus aller (Damen und) Herren Ländern bewegen sich im selben Raum und versuchen die unendlich langsam verstreichende Zeit totzuschlagen. Im Shuttle-Bus zum Flieger dann die ersten orthodoxen Juden. Mit breitkrempigem Hut, Schläfenlocken, Mantel und allem, was dazu gehört. Zum Beispiel Brillen mit einer mindestens zweistelligen Dioptrienzahl.


Was war eigentlich zuerst da: Orthodoxe Juden oder die Kurzsichtigkeit? Oder andersrum gefragt: Ab wie viel Dioptrien wird man in den
Verein aufgenommen? Oder wird man etwa automatisch sehhilfebedürftig, sobald man deren Straight-Edge-Lebensweise annimmt?


Nach Stunden zwischen dösen, Zeitungslesen und schlechter Bordverpflegung tauchen aus der sich auflösenden Wolkendecke die Kykladen auf. Hammer! Lauter Berggipfel, die zufälligerweise so gerade eben noch aus dem Mittelmeer heraus ragen.


Als ich später das nächste mal aus dem Fenster schaue, taucht aus dem schillerndem Blau des Meeres eine schnurgerade Küstenlinie auf. Das gelobte Land! Von oben sieht Tel Aviv sehr europäisch aus: Dicht bebaut, Hochhäuser, Vorortsiedlungen nach US-amerikanischem Suburb-Vorbild. Und drumherum großflächige Landwirtschaft.

Im Netz habe ich grade ein foto vom Ben-Gurion-Airport gefunden:


Und so steige ich also aus dem Flieger, ausgerüstet mit Klamotten für Berlin (0 Grad, Schneematsch, ekelhafter Wind) und befinde mich in unter Palmen bei 24 Grad, leichter Brise und von Schnee weit und breit keine Spur).

Auf dem Weg durch die Gangway zeigt sich dann, das meine Bedenken (Sorgen, Paranoia, wieauchimmer…) der letzten Tage irgendwie doch berechtigt war. Ich weiss auch nicht, woran es liegt, ich persönlich finde, dass ich nicht überdurchschnittlich verdächtig, kriminell, terroristisch und/oder bedrohlich aussehe.


Jedenfalls ziehen die beiden Security-Fuzzis von ca. 50 Richtung Einreiseschalter eilenden Menschen mich raus. „Excuse me, would you please come with us?“ Dann erstmal Passkontrolle und ein kurzer, aber stets freundlicher Mini-Verhör darübe
r was ich in Israel vorhabe, wo ich herkomme, wo ich zu wohnen und zu arbeiten gedenke, wie die Stiftung heisst und was mein Forschungsthema sein wird. Aber mein Gepaeck durchsuchen sie nicht, insofern alles halb so wild...

Dann noch der Hinweis, dass ich mir ein denkbar schlechten Zeitpunkt ausgesucht hätte, um in Israel politische Forschungen zu betreiben. Denn Sharon liegt im Koma und wird nach Auskunft seiner Ärzte auch nie wieder aus diesem heraus kommen.


Ich verbitte mir den Eindruck von Schadenfreude, werte Leserschaft, aber der Mann ist achtundsiebzig, hat seit 50 Jahren Dauerstress in der Politik und davor als Luftwaffengeneral und hat in den letzten Wochen unzählige Herzinfarkte und Schlaganfälleerlitten, insofern kommt das nicht überraschend und sein die baldiger Tod ist meine
s Erachtens völlig in Ordnung.


Vor dem Flughafen wollte ich dann die Schilder am Haupteingangsportal – eine durchgestrichene Zigarette und ein durchgestrichener Revolver – fotografieren, was mir aber von einer jungen Sicherheitsbeamtin freundlich aber bestimmt untersagt wurde.


Also ins Sammeltaxi nach Jerusalem. Unterwegs hügelige, bewaldete Landschaft, ausgebrannte Jeeps und LKWs (Kriegsüberbleibsel?), Friedhöfe und unmengen an Autobahnen, Baustellen und Überlandstromleitungen. Und mitten drin, auf dem schraffierten Mittelstreifen zweier sich vereinenden Autobahnen steht ein Auto mit Warnblinker und der Fahrer steht wippend, also betend neben der offenen Fahrertür.


Der Taxifahrer weigert sich, mich am Damaskustor abzusetzen, angeblich hat er keine Genehmigung dorthin zufahren. Dabei liegt es mitten Im Stadtzentrum an der historischen Stadtmauer im Christenviertel. Ich nehme mal an, er war einfach zu faul und wollte nach Hause. Also laufe ich ein viertel Stunde durch das mittlerweile dunkle Jerusalem, von überall schallt der Ruf der Muezzine, die Autofahrer überbieten sich im Verkehrregeln brechen und hin und wieder schlendert ein Soldat mit einer lässig um die Schulter gehängtem M16 Sturmgewehr vorbei.


Am Damaskustor richt es tatsächlich wie in Damaskus: eine Mischung aus staubiger Straße, brennendem Müll und Zigarettenrauch der wartenden Ta
xifahrer. Bus nach Ramallah? Fehlanzeige - Bus nach Qalandia! Qalandia ist der Checkpoint zwischen Jerusalem und Ramallah.


Auf dem Weg dorthin fährt man über weite Strecken direkt an der Mauer – pardon – am Sicherheitszaun entlang. Die Mauer besteht aus einzelnen, ca. 6 Meter hohen Betonsegmenten, Parolen und Wahlplakate sind die einzige Verzierung auf dem massigen Grau.



Der Checkpoint selbst ist von Flutlicht hell erleuchtet, überall Stacheldraht, Wachtürme und Drehkreuze. Hinter Betonquadern und Stahltoren stehen Soldaten mit entweder der schon bekannten M16 oder den handlicheren Uzi Maschinenpistolen.


Da keine Autos passieren dürfen, muss man die 500 Meter zu Fuß zurücklegen. Eine aufgeregte Frauenstimme brüllt über Lautsprecher irgendwas auf Hebräisch zu den Wartenden. Am Rand überall fliegende Händler, die Snacks, Klamotten, Handyschalen und sonstigen Ramsch anbieten.


In Richtung Ramallah gibt es keinerlei Kontrollen, da ohnehin nur Palästinenser, die keinerlei polizeiliche Eintragungen haben einen Passierschein für Jerusalem erhalten.


Auf der anderen Seite wieder ins Taxi, nach 5 Minuten stehe ich im Zentrum von Ramallah und weiss erstmal nicht wohin. Im Schaufenster des Fotoladens gibt es neben den obligatorisch Arafat-Portraits auch diverse Saddam Hussein Bilder zu kaufen. Saddam in Uniform mit Gewehr, Saddam lächelnd vor Blumentapete, Saddam mit Hut und Anzug.


Im Gegensatz zu dem, was wir in unseren Medien von Ramallah mitkriegen (Tod, Zerstörung, freilaufende Bombengürteltiere, tec.) ist es eine stinknormale arabische Stadt mit unzähligen Geschäften, Designerboutiquen, Internetcafés, herumlungernden Polizisten, Leuchtreklamen, überdimensionalen Politikerportraits und Kindern die einen auf Schulenglisch Willkommen heißen und nach Herkunft, Wohlbefinden und Namen fragen.

Dann ein weiteres und für heute letztes Mal ins Taxi, bis zu meinem vorläufigem Quartier etwas außerhalb. Schönes Anwesen mit Garten, Terrassen, Plastikstühlen und Neonröhren. Die erste Stunde habe ich mich mit Abu Jamal, dem Guard, unterhalten. Er spricht zwar keine zehn Worte Englisch, aber mit Haenden und Fuessen und meinem Arabisch Vokabelheftwortschatz ging es doch erstaunlich gut.

Mein Zimmer ist schlicht aber sauber, es gibt eine Küche, ein Bad und ein Wohnzimmer mit Satellitenfernsehen. Also nichts wie Schuhe aus, Sachen auspacken und häuslich einrichten…