Sonntag, Januar 8

Ein paar Gedanken zu Orient-tierung, zu Siedlern und zum Wahlkampf

Ramallah, 6. Januar 2006


Nach langem und erholsamen Schlaf und einem minimalistischen Frühstück, bestehend aus Fladenbrot und Schwarztee, habe ich mich heute auf die Suche nach meinem Arbeitgeber, der Heinrich-Böll-Stiftung, gemacht.

Doch leichter gesagt als getan. Zwar hatte ich mir die Tel az-Za´atar Straße auf dem Stadtplan rausgesucht und selbigen mitgenommen, aber dennoch taten sich eine Reihe von Problemen auf.


Die da sind:


1)
Es gibt in Palästina keine Straßenschilder, anhand derer man sich orientieren könnte.


2)
Jede Straße hat neben dem Namen, der in englischer Transkription auf dem Stadtplan angegeben ist, auch noch ein oder zwei arabische Namen.


3)
Diese arabischen Bezeichnungen haben meist keinerlei Bezug zu den englischen, sondern beruhen auf historischen oder familiären Kriterien. (Zum Beispiel: die Straße, in der Familie Abdel-Müller wohnt und in der im Jahre 647 einmal ein Esel von nem Trecker überfahren wurde)


4)
Kein Schwein - oh, unreines Tier! Also besser: kein Schwanz – tschuldigung, sexistisch – also: kein Mensch in Ramallah kennt Straßen bei irgendeinem Namen, nicht einmal Taxifahrer, deren Zunft doch sonst überall auf der Welt ein Garant für urbane Orientierung ist, sozusagen GPS-Systeme auf zwei Beinen.


Fazit: Ich hatte einige hoch interessante Stunden Zeit, Ramallah zu Fuß und in diversen Taxis zu erkunden, mit Einheimischen ins Gespräch zu kommen, die dann meist hilfsbereit andere Passanten zu Rate zogen, damit sich letztendlich alle zusammen über meinen Stadtplan beugen konnten. Da die meisten nur miserabel Englisch sprachen und der Plan gerne auch verkehrt herum studiert wurde, waren diese Versuche nicht unbedingt erfolgreich.


Ich habe die Tel az-Za´atar Straße dann alleine gefunden und bin sie drei mal auf und ab gelaufen, ohne das Büro zu finden. Auch die Leute, die in dieser Straße wohnen, hatten allesamt noch nie von einem „maktab almani“ (deutsches Büro) gehört…


Letztendlich habe ich bei der UNRWA einen Arzt getroffen, der hat mit einem Mitarbeiter der Deutschen Vertretung telefoniert, der ihm die genaue Adresse des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung sagen konnte (wahrscheinlich: Ach die! Die haben ihr Büro um die Ecke von der Straße, wo der Großvater von Achmad – Gott habe ihn selig! – früher mal seinen Schrebergarten hatte).

Und das war am ganz anderen Ende der Stadt, was schlicht und ergreifend daran liegt, dass es die Tel az-Za´atar Straße zweimal gibt, aber beide unter anderen Namen gehandelt werden.

Jedenfalls kam ich dann doch noch an meinem Ziel an und stelle hiermit eine Preisfrage:

Kommt Orientierung eigentlich von Orient?

Ich tippe mal auf nein. Wer es genau weiss oder zufällig gerade ein etomythologisches Wörterbuch zur Hand hat, möge mir bitte das Ergebnis mailen, zu gewinnen gibt es einen von mir handsignierten Stadtplan, herausgegeben von der Authority of Municipality von Ramallah.

Im Büro bekam ich dann erst einmal Tee, eine ausführliche Ein- und Rundführung sowie einen Schreibtisch mit Computer mit – Achtung, festhalten – Internetstandleitung.

In den Gesprächen mit Ute und Christian, die größtenteils politischer Natur waren (aber wen wundert´s: in dieser Region ist ALLES politisch) ist mir dann einmal mehr die ganze Perversion der Besatzung bewusst geworden.

Warum gibt es zum Beispiel die Siedlungen in der Westbank, wenn nicht aus reiner Provokation. Hoch auf einem Hügel über Ramallah, in bester Lage mit Blick auf Jerusalem, befindet sich seit 1981 die Siedlung Pesagot. Dort wohnen 1400 Siedler in schönen Einfamilienhäuser in Reihe und Glied, alles identische Fertighäuser. Umringt von Zäunen und Mauern und bewacht von Soldaten der IDF, die diese strategisch günstige Stellung während der Belagerung von Ramallah 2002 mehrmals dazu nutzen, die Stadt zu beschießen.


Die Siedler haben keinerlei Kontakt zu ihren arabischen Nachbarn, sie benutzen separate Straßen, denen sich Palästinenser nicht näher als 200 Meter nähern dürfen. Auch an den Checkpoints müssen die Siedler nicht warten, für sie gibt es Transitstraßen. Und für die anfallenden Arbeiten in Haus und Garten haben sie asiatische Billiglohnarbeiter.

Araber einzustellen geht natürlich nicht, wäre ein Sicherheitsrisiko. Und ein Siedler verbraucht im Schnitt viermal so viel Wasser wie ein Palästinenser, was in dieser trockenen Region logischerweise einen hohen Wert hat.


Das die Siedlungen nach Artikel 49 der Genfer Konventionen voelkerrechtlich illegal sind, bestreitet niemand, nicht einmal Israel. Dennoch wurden die Siedlungsaktivitaeten auch in den 90er Jahren, waehrend der Friedensverhandlungen fortgesetzt.

Und im August hat Scharon (den wollen sie jetzt wieder aufwecken, schreibt spiegel-online) zwar 8000 Siedler aus dem Gazastreifen raeumen lassen, aber gleichzeitig wurden in der Westbank, insbesondere um Ost-Jerusalem herum und im Jordantal (zusaetzlich zu den bereits dort siedelnden 430.000) Siedlungen fuer 30 – 40.000 neue Siedler gebaut.

Die Flaechen, die fuer diese Siedlungen benoetigt werden, werden einfach konfisziert, die Besitzer enteignet und fertig ist der Lack. Den Palaestinenser haben nicht das Recht vor einem israelischen Gericht zu klagen. Sie unterliegen - im Gegensatz zu Israelis - dem Militaerrecht und haben daher nicht die Moeglichkeit die Mittel des demokratischen Rechtsstaates (der Israel ja ohne Frage ist) zu nutzen.

Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten - allerdings nur fuer seine Buerger juedischen Glaubens.

Und Israel unterstuetzt die Siedler ja nicht aus Jux und Dollerei, sondern um Fakten zu schaffen und ihren Anspruch auf den Grossraum Jerusalem, die niederschlagsreichen Gebiete in den Bergen von Judaea & Galilaea und das fruchtbare Jordantal geltend zu machen. Dass dadurch ein lebensfaehiger Palaestinenserstaat ein Ding der Unmoeglichkeit wird, wird billigend in Kauf genommen.

Heute sind 3% des Westjordanlandes mit israelischen Siedlungen bebaut, zu deren Sicherheit sind aber 40% des Westjordanlandes unter israelische Sicherheitsverwaltung gestellt worden.

Und Israel laesst sich seine Siedler, die Pioniere des Wilden Nahen Osten, die Speerspitze von Eretz Israel (Gross-Israel) einiges kosten:

Keine Aussicht auf Frieden, jede Menge Ressourcen und Wehrdienstleistende zu deren Schutz und 556 Millionen US$ im Jahr fuer den Schutz, die Steuererleichterungen, das Schulgeld und die Gehaltssubventionen fuer die Siedler. Das ist doch mal ne echte Alternative zur Eigenheimzulage!

Ich werde mir in den nächsten paar Tagen eine palästinensische Jawwal Prepaid-Karte zulegen, den irgendwie muss ich ja telefonieren können. Doch das palästinensische ist mit dem israelischen Netz nicht kompatibel, das heißt man kann von dem einen nicht in das andere Netz telefonieren. Auch da zeigt sich das Große im Kleinen!

Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass grade Wahlkampf ist? Die ganze Stadt ist zuplakatiert mit Wahlplakaten der unterschiedlichsten Parteien und den Gesichtern der unabhängigen Kandidaten. Dazu überall Transparente, Leuchtplakate, Jeeps, auf denen Flaggen schwingende, in Megaphone brüllende Aktivisten stehen und Shebab (Jugendliche) die bewaffnet mit Plakatrollen, Pinseln und Kleistereimern durch die Straßen ziehen und jede noch so unmögliche Stelle nutzen, um ihre Plakate – möglichst 30 in einer Reihe – an die Mauern zu kleben.




Die graphisch am besten gestalteten Plakate hat eindeutig die Fatah. Außerdem haben die sich die Sonnenblume als Symbol von einer deutschen Oppositionspartei ökologischer Prägung geklaut. Was aber ganz bestimmt nicht heisst, dass ab jetzt auf Fatah-Parteitagen gestrickt wird.

Abends auf dem Weg nach Hause im Sammeltaxi dann eine kleine Überraschung: Ich wohne in einem christlichen Hospiz etwas außerhalb von Ramallah an der Straße nach Bir-Zeit. Also nehme ich ein Taxi nach Bir-Zeit und sage dem Fahrer kurz vor meinem Ziel, dass er mich bitte am Star Mountain Center rauslassen soll. Wäre nicht nötig, denn er wusste bereits, dass ich dort aussteigen muss. Es scheint sich also schon herumgesprochen zu haben, dass da ein Deutscher in der Stadt ist…